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10. März 20

Agiler Kater - die Probleme mit agiler Organisation

Bei manchen Unternehmen und Organisationen zeigen sich erste Zeichen von Agilitätsmüdigkeit. Zu viele Initiativen zur Einführung von agilen Arbeitsmethoden und Formen der Arbeitsorganisation haben die an sie gestellten Erwartungen enttäuscht. Es herrscht eine Art "agiler Kater" - kein Wunder, wenn in zu kurzer Zeit zu viele unterschiedliche "agile Substanzen" konsumiert werden.

Es erwartet Sie hier eine kleine, manchmal auch ein wenig polemische Rundschau zum Thema Agilität. Entlang der etablierten Dimensionen des Organisationsdesigns lassen sich Beobachtungen zu "Good Practices", aber auch zu einigen, aktuell besonders beliebten Denkfehlern zur Agilität sortieren. Die passieren natürlich nur den anderen, fühlen Sie also sich selbst und Ihre eigene Organisation ausgenommen.

Agile Strukturen

Selbstorganisation ist das Schlagwort der Stunde. Tatsächlich ist die Experimentierfreude von kleinen und großen Organisationen hier gewaltig. Ob Großkonzerne wie Daimler oder Start-ups, ob IT-getriebene Medienunternehmen oder klassische Industrie - alle verfügen irgendwo über selbst organisierte Teams, die mit Scrum, Design Thinking oder anderen agilen Methoden arbeiten. Aber sind das schon "agile Strukturen"? Wir haben da so unsere Zweifel.

Agile Formen der Arbeitsorganisation machen eine Gesamtorganisation nicht zwangsläufig agiler

Agile Methoden sind Antworten auf das Problem einer doppelten Ungewissheit in einem spezifischen Problemfeld. Wie mein Kollege R. Wimmer schreibt: "Es geht um die Bearbeitung einer Anforderung (eines oder mehrerer Kunden, eines internen Bereiches, des Topmanagements, etc.), die mit so viel Unbekanntheit/Nichtwissen aufgeladen ist, dass die anfordernde Stelle noch gar nicht in der Lage ist, das zu lösende Problem genauer zu beschreiben. Der Bedarf ist zwar da, in seinen Konturen aber noch weitestgehend diffus. Gleichzeitig haben jene involvierten Stellen, die zur Bearbeitung dieser Anforderung aufgerufen sind, auch noch keine fertigen Lösungen, basierend auf in der Vergangenheit erworbener Expertise. Da gibt es zwar Erfahrungen aus unterschiedlichen Fachrichtungen, aber weder eine einzelne derselben noch in ihrem Zusammenwirken weiß bereits das passende Ergebnis. Dieses kristallisiert sich erst in einem kreativen Versuch und Irrtumsprozess heraus. Diese spezifische Komplexität (geprägt durch das hohe Maß an Ungewissheit auf beiden Seiten - der Anforderung wie der Bearbeitung) verlangt nach Formen der Bearbeitung und der Kooperation zwischen beiden Seiten, die der angesprochenen Komplexität und dem häufig vorhandenen zeitlichen Lösungsdruck ernsthaft Herr werden können. Dafür haben sich iterative Formen der Arbeitsorganisation herauskristallisiert, die mit Scrum, Design Thinking und ähnlichen Begriffen belegt werden." Probleme, die diese Formen der Arbeitsorganisation sinnvoll machen, sind aber auch in Zeiten der Digitalisierung nicht der Alltag. Daher gibt es fast überall "Inseln" in der Organisation, die so arbeiten - während der größere Rest in etablierten Unternehmen irgendwie anders arbeitet. Wie das gehen kann, zeigt beispielsweise Daimler mit seinem Schwarmkonzept vor.

Interdiszplinarität ist keine neue, "agile" Organisationsform

Organisationsstruktur ist immer eine Festlegung der Arbeitsteilung. Zu entscheiden ist, nach welcher Logik die für die Herstellung der eigenen Produkte und Leistungen notwendigen Arbeitsschritte sortiert und danach in spezialisierten Einheiten gebündelt werden. Klassisch nach fachlichen Funktionen - Entwicklung, Produktion, Vertrieb, Support, etc. Geschäftsfeldorientiert nach Geschäftsfeldern oder Produktbereichen. Projektorientiert beispielsweise im Anlagenbau. Nach Prozessen, Regionen, Kunden etc. Auch eine "agile" Organisation kommt nicht ohne Arbeitsteilung aus. Ab einer gewissen Größe ist Spezialisierung nicht nur eine engstirnige, gestrige Binnenorientierung, sondern Bedingung für Effizienz. Die Notwendigkeit, bestimmte Themen cross-funktional oder interdisziplinär zu bearbeiten - vor allem, wenn der Lösungsraum oder die Lösungsmethoden unklar sind - führt in manchen Unternehmen zu einer Überreaktion. Sie schaffen gleich alle fachlichen Strukturen auf einmal ab. Alle sollen ab jetzt in interdisziplinären Teams zusammenarbeiten. Der interessante Denkfehler dabei: irgendwo müssten diese Menschen ja auch in ihrer fachlichen "Disziplin" aus gemeinsamen Ressourcen schöpfen, persönlich entwickelt und herausgefordert werden. Interdisziplinarität ist an vielen Stellen großartig. Aber sie setzt voraus, dass auch die andere Seite "organisiert" wird.

Agile Kommunikation und Steuerung

Iteratives Vorgehen ausgehend vom aktuellen "Hier-und-Jetzt" macht nicht automatisch agiler

In Organisationen erleben wir immer häufiger eine sehr eigenwillige Auslegung des Begriffs "agil":

  • Es ist nicht klar, wer tatsächlich zu einem Meeting erscheinen wird, weil einige Teilnehmer mehrere parallele Zusagen gemacht haben, andere wiederum auf die Einladung gar nicht erst reagiert haben? Auch gut, frei nach Open Space, "die die da sind, sind die Richtigen".
  • Das Meeting beginnt eine halbe Stunde zu spät? Auch gut, wir sind ja jetzt "agil" und erzielen das Ergebnis eben schneller ...
  • Man erscheint nicht vorbereitet zum Treffen? Auch gut, wir sind ja jetzt "agil" und da könnte es sein, dass die Unterlagen von gestern ohnehin irrelevant sind ...
  • Man denkt ein komplexes Projekt nicht mehrere Schritte voraus? Auch gut, iteratives Vorgehen ist ja besonders agil ...

So werden unter dem Deckmantel scheinbarer Modernität an vielen Stellen unglaubliche Mengen an Ressourcen, Zeit und Lebensenergie verpulvert. Oft wird ein Vorgehen wie in den geschilderten Beispielen nicht zum Erfolg führen. All jene, die agile Arbeitsmethoden professionell einsetzen, wissen, wie viel in die Planung und Organisation zu investieren ist, um damit den Raum für selbstgesteuerte und dennoch zielgerichtete Kreativität zu ermöglichen.

Top-Down Kommunikation zentraler Inhalte ist nicht immer nur ein Zeichen althergebrachter "command-and-control" Strukturen

Ein Kunde von uns hat sich tatsächlich komplett transformiert und die fixen Organisationsstrukturen aufgegeben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter agieren in wechselnden Kundenprojektzuordnungen. Es gibt zwar noch interne Ansprechpartner, die sich aber mehr als Unterstützer oder Coaches verstehen. Recht schnell zeigte sich, dass jenseits von Townhall-Meetings oder sehr generalisierter schriftlicher Kommunikation ein deutliches Defizit entstanden war: Es war plötzlich schwierig, effizient und effektiv wesentliche Organisationsthemen "an die Frau und den Mann" zu bringen. Menschen sind sehr unterschiedlich. Jede/Jeder von uns reagiert anders und benötigt eine spezifische Ansprache, um zu erkennen, dass etwas "ernst" ist. Und Kommunikation erfordert Zeit, was Führungskräfte allerorten immer wieder "überrascht" feststellen.

Fazit: Auch wenn die klassische kaskadenförmige Kommunikation vielerorts nur unzureichend funktioniert - der Ersatz durch reine "pullorientierte" Kommunikation funktioniert halt manchmal noch weniger.

Entscheidungen zu treffen ist nur von außen her gesehen einfach

Wer kennt nicht die Beschwerden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mittleren Führungskräften, dass "die da oben" schneller, besser, gleichzeitig konsistenter sowie idealerweise im Sinne eines allumfassenden Interessenausgleichs entscheiden sollten. "Das kann doch nicht so schwer sein, oder?" Tatsächlich geraten selbstorganisierte, agile Teams regelmäßig an ihre Grenzen, wenn es darum geht, eine "echte" Entscheidung zu treffen. Damit meine ich eine Entscheidung, die neben der Wahl einer Alternative andere ebenso attraktive Möglichkeiten ausschließt. Echte Entscheidungen in diesem Sinne sind immer Wetten auf die Zukunft und generieren bei den Fans der nicht gewählten Alternativen Enttäuschung und manchmal auch Ärger. Dummerweise kommt aber keine Organisation ohne Entscheidungen aus. Sie sind, im Gegenteil, aus systemischer Sicht das Kernelement von Organisationen. Die Verbreiterung der Entscheidungsformate (systemisches Konsensieren, Widerstandsabfragen, etc.) sind großartige Ergänzungen zu etablierten Varianten (Konsens oder "Chef entscheidet"). Dass sie immer weitere Verbreitung finden, zeigt den Bedarf.

Agile Personalsysteme

Die Gestaltung von Personalsystemen wird endlich als Top-Management Aufgabe wahrgenommen

Der "War for Talents" wurde schon vor mehr als 20 Jahren ausgerufen. Die "Kriegsführung" wurde dabei in Verkennung der Tatsachen weitgehend an die Personalbereiche delegiert. Erst in den letzten Jahren werden auch CEOs auf die Gestaltung von Karrierewegen, Bonussystemen und Zielvereinbarungsmethoden angesprochen. Der klare Trend geht in Richtung Abschaffung von individuellen Boni (z.B. Bosch, Munich Re und andere), mehr Transparenz in Stellenbesetzungsprozessen und mehr Selbstverantwortung. Das sind ermutigende Signale für die weitere Gestaltung von Personalsystemen, die erwünschte Flexibilität auf Mitarbeiter- und auf Organisationsseite mit positiver (Selbst-)Bindung kombinieren helfen.

Freiraum, um für die eigene Entwicklung zu sorgen, klingt besser als es für viele in der Realität ist

Unternehmen haben das klassische Versprechen einer lebenslangen Beschäftigung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer mehr aufgekündigt. Statt um Life-Long-Employment geht es für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jetzt um "Life-Long-Employability". Je agiler Unternehmen sein wollen, um so mehr Verantwortung für die eigene Entwicklung delegieren sie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst. Das beginnt bei der Suche und Organisation von Fortbildungen und kulminiert bei der in manchen selbstorganisierten Unternehmen eingeführten öffentlichen Gehaltsfestlegung (siehe Handelsblatt, Nr. 22, 31.1.2020). Zugegeben: Auch bisher haben häufig schon jene, die lauter schrien, mehr bekommen als ihre leiseren Kolleginnen und Kollegen. Für das neue 360°-Feedback positiv geneigte und kritische Kolleginnen und Kollegen aktiv um Rückmeldung zu bitten oder die eigene langfristige Karriereperspektive außerhalb des Unternehmens ohne Sorge ins Gespräch zu bringen, fällt nachvollziehbar vielen Menschen schwer.

Infrastruktur und New Work 

Es ist vieles viel besser geworden - und es ist noch lange nicht gut

Letztes Jahr hat einer unserer Kunden die Festnetztelefonie abgeschafft. Zusammenarbeit via Skype for Business ermöglicht ja die ständige Integration von Audio- und Videotelefonie, gleichzeitiges Bearbeiten von Dokumenten usw. Wir haben dann recht schnell die (vielfach privaten) Handynummern der Projektbeteiligten auch ausgetauscht ... Die technischen Möglichkeiten für virtuelles Arbeiten haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Der Zugriff auf gemeinsame Daten, Kollaborationsplattformen, unternehmensinterne soziale Medien etc. ist selbstverständlich geworden. Dass gleichzeitig so analoge Formate wie "Daily Stand Ups", physische Kanban Boards und, gerade in Start-ups, Gemeinschaftsbüros mit maximaler Begegnungsfrequenz boomen, zeigt nur wie sehr wir im Zusammenwirken auf persönlichen Kontakt angewiesen sind. Bei den technischen Werkzeugen für ein produktives Arbeiten in Teams bleibt immer noch Luft nach oben.

Geschäftsprozesse

Kundenzentrierung ist heute mehr als ein Schlagwort - die Digitale Transformation hat alle erreicht

So ziemlich jede uns bekannte Organisation und Organisationseinheit hat sich "Kundenorientierung" schon lange auf die Fahnen geschrieben. Unsere Erfahrungen als Konsumenten sind aber zunehmend von Unternehmen wie Amazon geprägt, die teils über viele Jahre alle Gewinne und viele Milliarden von Investoren auf die Optimierung unserer Kundenerfahrungen verwendet haben. So wurden die Grenzen dessen, was an Informationsverfügbarkeit (Google), Liefergeschwindigkeit (Amazon), intuitiver Benutzeroberflächen (Apple) etc. möglich schien, laufend nach oben geschoben. Und das wird jetzt für "normal" gehalten. Egal in welcher Branche, Organisationen müssen hier enorme Anstrengungen unternehmen, um auch nur einigermaßen mithalten zu können. Von Produktwelten zu Leistungsverträgen - neue Geschäftsmodelle sind eine Herausforderung für die Organisation Gerade im industriellen Umfeld sehen sich unseren Kunden vor radikalen Veränderungsprozessen. Die Automobilindustrie in Deutschland und Österreich ist nicht zufällig ständig auf den Titelblättern von Wirtschaftszeitungen und Journalen oder in der Tagespresse. Die zunehmende Abkehr von einer produktfokussierten Ökonomie ("Man(n) kauft alle paar Jahre ein neues Auto") zu einer nutzungsbasierten Mietökonomie (Sharingmodelle; Mobilität statt Automobilität) erfordert in Kombination mit der technologischen Abkehr von Verbrennungsmotoren einen radikalen Umbau. Auch wenn die Verlängerung der Wertschöpfung in Richtung Finanzierung und profitabler After-Sales-Services schon lange geübt wurde, blieben diese eigene, wenig integrierte Bereiche und waren nicht Identitätskern. Nun müssen die Gesamtprozesse neu gedacht und gestaltet werden.

Der "agile Kater" liegt also oft daran, dass das Schlagwort von der "agilen Organisation" mit Erwartungen überladen wurde. Es ist nicht so, dass die konkreten Ergebnisse in einzelnen Projekten nicht erfüllt wurden. Das iterative Vorgehen mit agilen Formen der Arbeitsorganisation wie Scrum und agilen Methoden wie Design Thinking etc. ist an vielen Stellen durchaus erfolgreich. Enttäuschung entsteht dadurch, dass einzelne Projekte und agile Inseln sich oft nur schwer in die Gesamtorganisationslogik einfügen lassen und dass selbst ein gleichzeitiger Umbau vieler Organisationsdesign Elemente - siehe oben - in Richtung einer agileren Gesamtorganisation die Herausforderungen der Digitalen Transformation nicht löst. Aber es hilft.

Mehr dazu unter anderem in unserem Lernweg Organisationsdesign.

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