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18. Oktober 22

Expert Leadership

Expert*innen sind keine Führungskräfte, Expert*innen beraten Führungskräfte - so die verbreitete Meinung und operative Praxis. Im Rahmen eines Kundenmandates für ein Expert Leadership Programm haben wir uns vertieft mit dem Expertentum auseinandergesetzt und uns zunächst gefragt: Was zeichnet überhaupt eine Expertin, einen Experten aus? Und welche Rollen nehmen Expert*innen in Organisationen ein?

Rolle von Expert*innen in Organisationen

Meist sind Expert*innen in Stabsstellen und nicht in der Linie zu finden. Jurist*innen, HR-Spezialist*innen, Personalentwickler*innen, Qualitäts- und Sicherheitsbeauftragte oder Controller*innen sind klassische Rollen. In der Industrie sind es oft auch wissenschaftlich orientierte Ingenieure*innen, Naturwissenschaftler*innen oder Mediziner*innen, die als Know-how-Träger*innen in Labors, in der Produktentwicklung oder in Innovationszirkeln arbeiten. Expert*innen verfügen über vertieftes Wissen in einem Fachgebiet oder sie sind in einem Sachgebiet überdurchschnittlich fähig, was dann als Expertise basierend auf langjähriger Erfahrung bezeichnet wird.

Expertinnen und Experten sind oft Einzelkämpfer ohne mitstreitende Teams und damit ohne Führungsverantwortung. Allerdings finden sie sich ebenso oft in der Verantwortung für die Leitung von Projekten, wo sie temporär interdisziplinäre Teams unter Zeit-, Qualitäts- und Kostendruck führen. Auch als Sparring des Managements sind sie gefragte Partner*innen, von denen erwartet wird, substanziell zu Führungsthemen beizutragen.

Leadership und Expertentum – sind das tatsächlich zwei sich ausschließende Parameter? Die Rollenzuschreibungen an Expert*innen sind breit und vielfältig, wie unsere nicht abschließende Sammlung in Abbildung 1 zeigt:

Abb. 1: Rollen von Expert*innen (Quelle: eigene Darstellung, osb international)

Leadership Learning Programm für Expert*innen

Basierend auf diesen Rollenerwartungen haben wir ein Leadership Learning Programm für Expert*innen entwickelt, da wir der Meinung sind, dass Expertinnen und Experten heute über ein breites Repertoire an Leadership-Skills verfügen müssen. Auch wenn sie nicht in der Linie führen, können zahlreiche führungsnahe Anforderungen formuliert werden. Expert*innen sollten folgende Erwartungen erfüllen:

  • organisationale Einheiten und Gruppen mit ihrer Expertise bzw. in Projekten führen
  • das Management strategisch beraten und Innovationsprozesse anstoßen
  • zusätzliche Wertschöpfung für die Organisation dank ihrer Expertise generieren
  • sich bereichs- und funktionsübergreifend nach innen und nach außen vernetzen und kollaborieren
  • Entscheidungstragende mit ihrer Expertise beeinflussen und als wichtige Sparring-Partner*innen für optimierte Entscheidungen dienen
  • die eigene Rolle verstehen und den persönlichen Expert*innen-Karrierepfad gestalten
  • Einfluss und Wirkung mittels ihrer Expertise im gesamtorganisationalen Geschehen entfalten

Expert*innen führen lateral

Die genannten Anforderungen entsprechen weitgehend dem Konzept "Laterales Führen" (Kühl, 2017) bzw. dem "How to Lead When You’re Not in Charge" (Fisher & Sharpe, 1998).

Kühl nennt diesen lateralen Führungsprozess auch "Führen zur Seite", der auf Verständigung, Vertrauen und Macht beruht. Im Prozess der Verständigung zwischen Expert*innen, Manager*innen und Mitarbeitenden können neue Handlungsmöglichkeiten basierend auf spezifischem Expert*innenwissen erschlossen werden. Expert*innen sind nicht Konkurrenten in der Linie von Chefs, sondern können als Vertrauenspartner*innen für anspruchsvolle Führungsherausforderungen herangezogen werden. Und schließlich verfügen Expert*innen über andere als hierarchische Machtquellen: Überragendes Fachwissen, Zugang zu informellen Kommunikationswegen als Nicht-Vorgesetzte (Flurfunk) sowie breite Vernetzung in- und außerhalb der Organisation.

Expert*innen als Servant Leader

In diesem Sinne entsprechen Expert*innen dem (agilen) Modell des Servant Leader (Robert R. Greenleafe), der Dienst an der Organisation leistet und Führung als Möglichkeit versteht, anderen zu dienen – sei es als Führungskraft oder als Experte*in. Begreifen sich Expert*innen als Servant Leader, dann brauchen sie ein neues Verständnis für ihre eigene Rolle und für ihre Möglichkeiten, in Organisationen kompetent und im Sinne des Unternehmenswohls Einfluss zu nehmen. Der Case for Action eines Leadership Learning Programms für Expert*innen liegt genau hier: Weg vom Elfenbeinturm der Fachwissenschaft hin zur unternehmerisch vernetzten Persönlichkeit.

Das von uns mit dem Kunden und in Zusammenarbeit mit Simon Weber Friends (Gerhard P. Krejci & Nadja Walser) entwickelte Programm ruht entsprechend auf vier Pfeilern:

Organization & Leadership

  • Sich selbst führen, organisationale Führung als Funktion, Paradoxien der Führung, Arbeiten mit Anspruchsgruppen, Dynamiken von Team

Strategy & Intrapreneurship

  • Strategische Prozesse verstehen, Finanzen managen können, Innovation gestalten, Reputationsmanagement und Selbstmarketing

Organisational Behaviour & Change

  • Organisationsverständnis und -kultur, Veränderungs- und Transformationsprozesse, Agilität, Umgang mit Konflikten und Widerstand

Impact & Influence

  • Als Experte*in beraten und intervenieren, Einflussnahme und Macht, Paradox des Experten/der Expertin

Ziel ist ein klares Empowerment der Expert*innen über ihr Spezialistentum und ihre ortsgebundene Einheit hinaus. Das gesamte Programm nimmt die Metathemen Kooperation und Kollaboration sowie Beobachtung und Reflexion laufend in den Fokus. Das Lernen erfolgt in Peer Groups und anhand von Fällen aus der Praxis der Teilnehmenden. Wesentliche Komponenten für den global agierenden Kunden sind das Networking der Spezialisten über Einheiten und Länder hinweg sowie das interkulturelle Lernen. Die beauftragenden Vorgesetzten erhoffen sich nicht weniger als das VUCA-Management (Management unter Unsicherheit, Ambiguität, Komplexität und steter Veränderung) und die Problemlösung durch kreatives Out-of-the-Box-Denken der Expert*innen.

Expert*innen als Agilitäts-Mentoren

Als Berater*innen sind wir uns sehr wohl bewusst, dass das Lern- und Entwicklungsprogramm für Expert*innen nur dann Wirksamkeit entfalten kann, wenn gleichzeitig Maßnahmen zum Wandel in der Organisationskultur in Richtung Selbstorganisation getroffen werden. Die Veränderung von Entscheidungsregeln wird auch auf das Selbstverständnis von Führungskräften zurückwirken und die Position von Manager*innen beeinflussen.

Der gesamte Lernprozess kann daher immer nur Hand in Hand zwischen Expert*innen und Führungskräften gelingen und stellt sowohl ein individuelles Entwicklungsprogramm als auch einen Ansatz der Organisationsentwicklung dar.

Expert*innen sind – so unsere Hypothese - für eine zunehmend komplexe Welt bedeutende Partner*innen, um Sinn und Orientierung im organisationalen Geschehen zu schaffen, Agilität zu befeuern und deutlich Einfluss zu nehmen auf (selbstorganisierte) Teams.
 

Literatur

Ericsson, K. Anders et al. (2006). The Cambridge Handbook of Expertise and Expert Performance, Its Development, Organization and Content, Cambridge: University Press.

Greenleaf, Robert K. (2002). Servant Leadership: A Journey into the Nature of Legitimate Power and Greatness, 25th anniversary ed., New York: Paulist Press.

Fisher, Roger & Sharpe, Alain (1998). Getting it Done. How to Lead When You’re Not in Charge, New York: Harper.

Kühl, Stefan (2017). Laterales Führen, Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung, Wiesbaden: Springer.

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