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27. Februar 18

Sense-making statt Sinnsuche

Systeme fallen auseinander, wenn gemeinsame Sinnkonstruktion nicht gelingt

Wenn man Führungskräften erklärt, dass in der Systemtheorie Organisationen als Sinneinheiten betrachtet werden - Systeme gelten als sinnkonstituierende und sinnkonstituierte Gebilde - erntet man oft nicht nur erstaunte Blicke sondern mitunter auch ein Kopfschütteln. Zu häufig werden Entscheidungen, Projekte und Meetings als sinnlos erlebt.

Sinn - ein Anker im orientierungslos erlebten Berufsalltag

Führungskräfte beschreiben ihren Berufsalltag als wenig ausgerichtet an gemeinsamen Zielen und Werten sondern als "roller coaster". Sie erleben sich nicht im "driving seat" sondern hin und her geschleudert zwischen widersprüchlichen Erwartungen und willkürlichen Entscheidungen. Die Sehnsucht nach einem Ausweg aus dieser Getriebenheit und Überforderung ist groß. In der aktuellen Managementliteratur wird die Bedeutung von Sinn- und Werteorientierung im Umgang mit Überforderung, Unsicherheit und Komplexität stark betont. Sie werden als hilfreiche Ankerpunkte in einem orientierungslosen erlebten Berufsalltag dargestellt.

In der Beschäftigung mit dem Thema Sinn- und Werteorientierung sind mir zwei Phänomene immer wieder aufgefallen:

  • Die "ontologische" Falle, d.h. die Vorstellung, dass Sinn etwas Vorgegebenes ist, das man durch intensives Suchen finden kann, dass es bestimmte Dinge und Taten in der Welt gibt, die per se sinnlos bzw. sinnvoll "sind".
  • Die Überbewertung bzw. Überhöhung der Zukunft, d.h. Sinn wird ausschließlich oder zumindest überwiegend auf etwas Zukünftiges, auf einen zukünftigen Zustand projiziert. Es ist etwas, das nur zukünftig erreicht werden kann.

Diese weitverbreiteten Vorstellungen sind aus meiner Erfahrung für Führungskräfte nicht hilfreich, um aus dem "roller coaster" auszusteigen. Sie beschleunigen ihn sogar noch und verstärken das Gefühl von Ohnmacht, indem sie Sinn als etwas "Vorgegebenes" und somit "passiv zu Rezipierendes" darstellen und als etwas, das immer zukünftig und somit nie erreichbar ist.

Sinn gilt es zu "konstruieren"

Hilfreicher ist ein systemischer Blick, d.h. die Auffassung, Sinn ist in der Welt nicht vorgegeben, sondern wird von Akteuren und Beobachtern zugeschrieben. Sinn wird zugewiesen, "konstruiert". Sinn kann nur in konkreten Situationen aktualisiert werden. Es braucht das Agieren im Jetzt. Diese Vorstellung von Sinn fördert eine aktiv gestaltende und selbstermächtigende Grundhaltung.

Was bedeutet das für die Praxis von Führungskräften?

  • Es genügt nicht, Werte festzuschreiben und in Hochglanzprospekten zu proklamieren. Es geht darum, Werte zu leben, sie in konkreten Situationen zur Basis von Entscheidungen zu machen, sie als Sinn zu aktualisieren, sie gemeinsam zu etwas Sinnhaften zu machen. Wenn das nicht gelingt, wenn die festgeschriebenen Unternehmenswerte und der erlebte Führungsalltag auseinanderklaffen, werden durch die Festschreibung von Unternehmenswerten Orientierungslosigkeit und Frustration nur verstärkt.
  • Wenn Ziele nur in Finanzkennzahlen ausgedrückt werden, entspricht das zwar der Bedeutung von "Wert" als Ergebnis einer objektiven Messung (z.B. Höhe des Gewinns), es trägt aber wenig zur gemeinsamen Orientierung bei.
  • Die etymologische Bedeutung von "Wert" verweist auf "kostbar" und "werden". Werte sprechen in diesem Sinn etwas an, aus dem Kostbares entsteht. Werte geben Zielen erst ihre Bedeutung und bestimmen, wie man Ziele erreicht. Die Wertvorstellungen von Führungskräften sind die entscheidende Basis ihres Verhaltens.
  • Komplexe Situationen können nur unter Bezugnahme auf gemeinsame Ziele und Werte sinnvoll beurteilt und dadurch gesteuert werden. Das Auseinanderdriften von Wertvorstellungen des Unternehmens und der Mitarbeitenden sowie die starke Individualisierung von Werten erschweren eine gemeinsame Konstruktion von Sinn und damit eine gemeinsame Ausrichtung.
  • Sich gemeinsam auf "Sinnsuche" zu begeben, ist ein aussichtsloses Unterfangen, wenn damit die Vorstellung verbunden ist, dass Sinn in einer vorgefassten Form irgendwo zu finden sei. Sinnvoll ist es, auf Basis gemeinsamer Werte Sinn zu kreieren, zu schaffen. Für mich folgt daraus: "sense-making" statt Sinnsuche!

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