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17. Oktober 23

Über die Gestaltung des Miteinanders in heterogenen Teams

Die Situation am Arbeitsmarkt hat sich zugunsten Arbeitsuchender gewendet. Der damit verbundene "Machtwechsel" ist für Organisationen mit dem Erleben von Kontrollverlust verbunden. Der anhaltende Mangel an Arbeitskräften wird dabei auf allen Ebenen als zentrale Herausforderung erlebt.

Die Notwendigkeit der Einbindung neuer Kolleg*innen mit unterschiedlichster Ausbildung, fachlicher Vorerfahrung und kultureller Prägung aus verschiedenen Altersgruppen stellt Führungskräfte und ihre Teams vor neue Aufgaben. Auch die zunehmende Globalisierung operativer Arbeitsgruppen befördert die wachsende Heterogenität in Teams.

In diesem Spannungsfeld sind Organisationen immer mehr gefordert, wachsende Unterschiede zwischen einzelnen Personen zu verarbeiten, um sie bestmöglich für verschiedene Aufgaben nutzen zu können. Schließlich liegt in der Vielzahl an Meinungen, Erfahrungen und Perspektiven für Organisationen ein großes Potenzial, um komplexe Aufgabenstellungen zu bearbeiten.

Es braucht daher bereits im Recruiting eine deutlich weitergehende Perspektive und neue Ansätze, um als Führungskraft diese Vielfalt zu steuern und die Bindung in Teams zu stärken. Der Fokuswechsel auf "verbindende Gemeinsamkeiten" und davon abgeleitete Handlungsmöglichkeiten können diesen markanten Change kraftvoll unterstützen.

Was uns verbindet – psychische Grundbedürfnisse:

Zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehören neben den physiologischen Bedürfnissen (z.B. Hunger, Durst, Schlaf und Wachsein) auch psychische Grundbedürfnisse. Wir beziehen uns dabei auf die Definition von Grawe: "Bedürfnisse, die bei allen Menschen vorhanden sind und deren Verletzung oder dauerhafte Nichtbefriedigung zu Schädigungen (...) des Wohlbefindens führen." Dazu zählen:

  • das Bindungsbedürfnis
  • das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
  • das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
  • das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Wie diese unterschiedlichen Bedürfnisse und ihr Mischungsverhältnis untereinander nun gewichtet sind, ist je nach geschichtlichem und soziokulturellem Kontext verschieden. Von Kindheit an erwerben wir die in unserer Umwelt gelebten Konzepte von Autonomie und Bezogenheit. In unserem Kulturraum sind diese in den letzten Jahren sowohl im Elternhaus als auch in Bildungsinstitutionen stark an Autonomie orientiert. Jedoch erleben wir bereits innerhalb dieses Kulturraums regionale Differenzen, z.B. in Abhängigkeit davon, wie urban oder ländlich geprägt der Lebensraum eines Menschen ist bzw. in der Kindheit war.

Ein Beispiel: Wenn Individualisierung und Autonomie im städtischen Umfeld eine große Rolle spielen, so wird dem Wohl der Gemeinschaft im ländlichen Raum häufig ein größerer Wert beigemessen als dem individuellen Entwicklungsstreben.

Wie wir auf Basis des Verbindenden Brücken bauen können:

Das Bindungsbedürfnis

Auch wenn häufig die stark ausgeprägte autonome Seite junger Mitarbeiter*innen thematisiert wird, gibt es gleichzeitig das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Führungskräfte können auf unterschiedlichste Weise dafür Sorge tragen, dass neue Kolleg*innen und das bestehende Team interessant füreinander werden, sich mit Offenheit begegnen und Zugehörigkeit erlebbar wird. Hier einige leitende Fragestellungen, die explizit und wiederholt mit dem Team erarbeitet werden können:

  • Worin bestehen unsere Gemeinsamkeiten und unsere Unterschiede?
  • Welche Unterschiede erleben wir als Bereicherung? Wann wird es schwierig? Wieviel Unterschiedlichkeit "verkraften" wir als Team und als Organisation?
  • Welche Kompetenzen bringen neue Kolleg*innen mit? Worin zeichnet sich das Team aus?
  • Was können "die Alten" von "den Jungen" lernen – und umgekehrt?
  • Wie feiern wir Erfolge – oder wie möchten wir es zukünftig stärker tun?

Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

Speziell in Anfangsphasen, aber auch in Zeiten der Veränderung, brauchen wir das Gefühl von "Verstehbarkeit" (vgl. Antonovskys Konzept der Salutogenese). Explizite (gemeinsame) Formulierungen von Team-Zielen, Aufgabenverteilung, Rollen, Prozessen und gemeinsamen Gestaltungsmöglichkeiten zahlen direkt auf dieses Grundbedürfnis ein und erhöhen Zufriedenheit und Bindung.

Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz

Ja, junge Kolleg*innen haben in ihrem bisherigen Leben sowohl im privaten, als auch im institutionellen Bildungsbereich deutlich mehr Lob und Ermutigung erhalten als die Generationen davor. Was damals oft zu Unrecht verwehrt wurde, muss jetzt für andere umso mehr geleistet werden. Keine leichte Aufgabe, jedoch eine lohnende, denn indem wir unseren Fokus auf positive Beiträge, gute Leistung und erfolgreiche Entwicklungen legen und dies durch Rückmeldung bestätigen, stärken wir eine positive Grundatmosphäre im gesamten Team: "Catch them when they are doing something right!"

Darüber hinaus ermöglicht uns genau diese Basis das Ansprechen bzw. Eingestehen von Fehlern, Versäumnissen, Unkenntnis, etc. und unterstützt damit direkt die psychologische Sicherheit im Team (vgl. Amy Edmondson, Psychological Safety). Ein Fehler bleibt dann nämlich das, was er ist: ein Fehler. Es kommt zu keiner Herabsetzung der Person und ihres Selbstwertes – etwas, das wir aus der Vergangenheit in Erinnerung haben. Diese Form der Demütigung wird – glücklicherweise – von den nachfolgenden Generationen nicht mehr in der Weise erduldet.

Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Auch hier gibt es aufgrund der gesellschaftlichen Ausrichtung der letzten Jahrzehnte deutliche Unterschiede zwischen den Generationen. Babyboomer und Gen Y haben noch gelernt, "die Zähne zusammenzubeißen" und "durchzuhalten". Das zieht heute nicht mehr. Freude über Erreichtes, direktes Feedback und rasche Entwicklungsmöglichkeiten sind wichtige Motivationsfaktoren für junge Kolleg*innen. Jedoch bleiben wir realistisch! Nicht jede Organisation punktet mit steilen Karriereleitern und hohen Gehältern. Kernideen sind daher:

  • die Vielzahl beruflicher Wege in der Organisation zu reflektieren, attraktiv zu gestalten und davon zu erzählen
  • Offenheit gegenüber dem Entstehen völlig neuer Wege, Karrieremöglichkeiten zu entwickeln

Bildreiche Narrative wecken Interesse und Neugier. Wenn wir bei der Metapher des Weges bleiben, hier einige leitende Fragestellungen für die interne Reflexion:

  • Was macht den Karriereweg bei uns insgesamt attraktiv?
  • Welche spannenden Wegabschnitte liegen vor neuen Mitarbeitenden? (Projekte, internationale Zusammenarbeit, Weiterbildungsmöglichkeiten, Konferenzen, Sichtbarkeit im Haus, ...)
  • Wer sind die ersten Weggefährt*innen, die beim Onboarding zur Verfügung stehen? Gibt es hier spannende, erfahrene Gesprächspartner*innen, Mentor*innen?
  • Wann kann das erste Mal Kompetenz sichtbar werden? Gibt es interessante Herausforderungen in der näheren Zukunft?
  • Wie gestalten wir das Thema Home-Office im Ausgleich zwischen Anforderungen der Organisation und individuellen Wünschen?
  • Welche besonderen Aussichtspunkte können definiert werden? Wann schauen wir gemeinsam auf Entwicklung und Potenzial? Welche Tools/Tests werden dafür eingesetzt?
  • Wie wird für Proviant und Erholung gesorgt? (Besondere Mitarbeiter*innen-Goodies wie abwechslungsreiches, nachhaltiges Kantinenessen, Work-Life-Initiativen, ...)
  • Und – last but not least: Worum geht es der Organisation? Gibt es einen explizit formulierten Purpose? Wie authentisch wird dieser gelebt – und wie wird er erlebbar gemacht?

Das Wesentlichste dabei: Die Wege müssen tatsächlich existieren beziehungsweise „im Gehen entstehen“ dürfen!

Zusammenfassung

Um unterschiedliche Perspektiven bestmöglich für die Bearbeitung von Komplexität nutzen zu können, braucht es aktive Steuerung von Seiten der Führung. Investments in diese Vorhaben zahlen langfristig auf Team-Zusammenhalt und Attraktivität für neue Bewerber*innen ein!

Literatur:

  • Klaus Grawe: Psychologische Therapie. Hogrefe, Göttingen 1998, ISBN 3801709787.
  • Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen 2004, ISBN 3-8017-1804-2.
  • Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997, ISBN 978-3-87159-136-5.
  • Amy Edmondson: Die angstfreie Organisation. Vahlen 2020, ISBN 9783800660681, 3800660687.

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