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18. Juli 23

Nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft

"Anders miteinander reden": Durch neue Formen des Dialogs und der Zusammenarbeit zur nachhaltigen Gesellschaft

Es bewegt sich etwas in Deutschland und in ganz Europa: Die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft – aktuell verkörpert durch die Klima- und Energiewende – steht im Mittelpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit wie nie zuvor. Wissenschaftlich-technologische Fortschritte, soziale Protestbewegungen (gerade auch der jüngeren Generation), politische Neukonstellationen, aber auch die jüngsten Krisenerfahrungen wie z.B. Naturkatastrophen, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise und Migrationsbewegungen haben dazu beigetragen. Immer öfter hört man Sätze wie "Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher" – viele Menschen beginnen die Art und Weise, in der wir leben und wirtschaften, zu hinterfragen. Aus Change-Perspektive könnte man sagen: Der Handlungsdruck hat spürbar zugenommen.

Gleichzeitig fällt es uns immer noch schwer diesen komplexen gesellschaftlichen Transformationsprozess einzuleiten:

  • Politiker*innen verheddern sich noch zu häufig in Macht- und Ressortkämpfen um die richtigen Ansätze oder agieren "von oben herab"
  • Wirtschaftsunternehmen befassen sich noch zu häufig nur in dem Maße mit Nachhaltigkeit als es profittauglich erscheint
  • Wissenschaftler*innen interessieren sich noch zu häufig nur für ihre jeweilige Fachperspektive und kommunizieren bevorzugt in ihrer eigenen Fachsprache
  • Soziale Bewegungen agieren noch zu häufig losgelöst von der breiten Bevölkerung und ziehen z.B. ob ihrer Protestformen Unmut auf sich
  • Und digitale "Kommunikationsblasen" fördern in Teilen der Gesellschaft noch zu häufig die Umdeutung oder gar vollkommene Leugnung der Probleme

Systemisch betrachtet agieren die jeweiligen Akteure noch in zu vielen Fällen getrennt voneinander und (erwartungsgemäß) innerhalb der Logik ihres jeweiligen gesellschaftlichen Funktionssystems. Jeder kennt "sein Spiel" und muss sich nicht direkt mit den jeweils anderen auseinandersetzen bzw. sich selbst nicht in Frage stellen und verändern.

Doch die Anzeichen mehren sich, dass jene "Grand Challenges", mit denen wir es heute zu tun haben und die fundamentale Fragen rund um das gemeinsame (Über-)Leben auf unserem Planeten berühren, eine andere Art des Miteinander-Redens und gemeinsamen Handelns erfordern: Wir brauchen mehr übergreifende Dialog-Plattformen und Zukunftslaboratorien, auf denen die Akteure aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam versuchen, die komplexen Problemlagen zu bearbeiten, attraktive Zielbilder zu formulieren sowie gangbare Lösungsansätze zu entwickeln. So können verschiedenste Perspektiven und Expertise in die Lösungsfindung einfließen, aber auch alle Parteien am Umbau beteiligt werden und "sich mitgenommen fühlen".

Im Folgenden einige Beispiele und Ansatzpunkte, die diese Beobachtung stützen bzw. den Weg in eine neue Richtung weisen können:

Bertelsmann Stiftung und Fraunhofer ISI haben vor Kurzem ein Papier veröffentlicht, in dem sie die Gründung sogenannter "Missionsagenturen" zur Steuerung transformativer Missionen von Wirtschaft und Gesellschaft vorschlagen, die quer zu etablierten Politikfeldern liegen: "Alle für den Erfolg relevanten Stakeholder – von den Ministerien über Unternehmen und Forschungseinrichtungen bis hin zur Zivilgesellschaft – müssten dafür mobilisiert und in die Formulierung und Umsetzung der Mission einbezogen werden. Etwa über den Aufbau von Austauschplattformen und Experimentierräumen oder das Lancieren gemeinsamer, auch öffentlichkeitswirksamer Initiativen." (Schraad-Tischler & Breitinger, 2023)

Mit Blick auf Transformations-Erfahrungen mit der sogenannten Kohle-Kommission im Rahmen des Kohleausstiegs in Deutschland schreibt etwa Bauchmüller in der SZ vom 3.6.2023, S. 21: "Die offene Bühne der Kommission machte Argumente transparent. Sie verschaffte denen Gehör, die sich andernfalls von der Politik bevormundet gefühlt hätten. Sie entzog Populisten den Boden."

Und auch Transformations-Formate aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wie die von Hassan (2014) beschriebenen "Social Labs" deuten in eine ähnliche Richtung. Sie heben neben der notwendigen Multi-Stakeholder-Orientierung auch ein stärker zyklisch-agiles Vorgehen hervor, nicht zuletzt unter Verweis auf die Komplexität der Probleme: "Social Labs bring together a diverse group of stakeholders not to create yet more five-year plans but to develop a portfolio of prototype solutions, test those solutions in the real world, use the data to further refine them, and test them again. Their orientation is systemic – they are designed to go beyond dealing with symptoms and parts to get at the root cause of why things are not working."

Ob in der großen Politik oder "on the ground" vor Ort: Die Bewältigung der aktuellen, komplexen Problemlagen benötigt nicht nur multiple sektoral-fachliche Expertise, sondern auch neue Formen der Führung, des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen diesen Expert*innen.

Und damit kommen potenziell auch wir als systemische Organisationsberater*innen und Sozialwissenschaftler*innen ins Spiel: "Social scientists understand how such crises are intertwined with us as individual human beings, in our relationships, our groups, our organizations, our communities, our institutions, how we collaborate with each other, how we compete with each other, and their ensuing dynamics." (Bartunek 2022, p. 1)

Dies hat auch Ruth Seliger in ihrem neuesten Buch "Systemische Beratung der Gesellschaft" (2022) erkannt und versucht, Konzepte und Instrumente, die wir change- und transformationsseitig bislang hauptsächlich auf der Ebene einzelner Organisationen einsetzen, auf Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes zu übertragen. Als strategischen Rahmen nutzt sie die "Change-Formel" (D. Gleicher) bestehend aus den Elementen Handlungsdruck, Vision/Zukunftsbild, Ressourcen für Veränderung und erste konkrete Schritte, die Einfluss auf die Veränderungsmotivation (hier der verschiedensten gesellschaftlichen Akteur*innen) nehmen. Auch sie müssen co-kreativ erzeugt, erzählt, ausgestaltet und bereitgestellt werden, damit sie Eingang in die gesellschaftliche Entwicklung finden können. 

Ein komplexes Unterfangen und Neuland damit auch für uns, aber überlebenswichtig für uns alle. Es ist höchste Zeit, miteinander um diese neuen Formen des Dialogs und der Zusammenarbeit zu ringen – an all den verschiedenen Orten, wo Wirtschaft und Gesellschaft stattfinden und sich verändern müssen.

Literatur:

Bauchmüller, M. (2023). Von oben herab: Gut gemeint, schlecht umgesetzt: Beim Heizen zeigt die Ampel, wie man Klimaschutz nicht machen sollte. SZ vom 3./4. Juni, S. 21

Bartunek, J.M. (2022). Social Scientists Confronting Global Crises. New York: Routledge.

Hassan, Z. (2014). The Social Labs Revolution: A New Approach to Solving Our Most Complex Challenges. San Francisco: Berrett-Koehler.

Schraad-Tischler, D. & Breitinger, J. (2023). Raus aus dem Ressortgefängnis. Siehe unter: https://www.jmwiarda.de/https-www.jmwiarda.de-2023-04-25-raus-aus-dem-ressort-gefaengnis/

Seliger, R. (2022). Systemische Beratung der Gesellschaft. Strategien für die Transformation. Heidelberg: Carl Auer.

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