20. Mai 25
Wie gutes Organisationsdesign Raum für einen neuen Umgang mit Regeln schafft
Eine kleine Geschichte vorab: Kürzlich saß ich mit einer Geschäftsführung zusammen und die Personalchefin erzählte davon, dass eine langjährige Mitarbeiterin nach zehnjähriger Firmenzugehörigkeit Ende letzten Jahres die Firma verlassen hatte. Schnell stellte sich für die Mitarbeiterin heraus, dass der Wechsel zu einem anderen Unternehmen ein Fehler war. Zur Freude aller kehrte sie nach zwei Monaten wieder zurück und tauchte zur Überraschung der Personalchefin beim Onboarding-Workshop auf. Auf die Frage, warum sie an diesem Workshop teilnehme, antwortete die Mitarbeiterin, dass es die Vorschriften leider so verlangen würden. Sie bedauere das sehr, weil sie hier nicht wirklich etwas Neues erfahren würde, gleichzeitig aber gerade sehr viel zu tun habe.
Warum Organisation und Führung mehr braucht als Regelwerke
Organisationen stehen heute unter enormem Veränderungsdruck: Fachkräftemangel, Digitalisierung, Regulatorik, Innovationsdruck – und gleichzeitig der Anspruch, eine neue Generation von Mitarbeitenden zu integrieren, die Selbstverantwortung und Sinn statt bloßer Regelbefolgung sucht. In diesem Spannungsfeld stellt sich eine zentrale Frage neu: Wie gestalten wir Organisationen so, dass sie verlässlich funktionieren, aber auch flexibel reagieren können – gerade im Umgang mit Regeln und Regelabweichungen?
Regeln sind wichtig – aber nicht alles
Regeln schaffen Orientierung, Sicherheit und Konsistenz. Sie bilden die formale Seite der Organisation ab, die notwendig ist, um Aufgaben effizient zu bewältigen und sorgen dafür, dass sich die Mitglieder an gemeinsame Verhaltensstandards halten.
Wie aber lassen sich die schnell wechselnden und teils widersprüchlichen Veränderungsbedarfe mit den formalen Anforderungen eines Regelwerks in Einklang bringen? Organisationen geben hierauf eine doppelte Antwort, indem sie Mitarbeitenden sowohl formal konsistente Regeln vorgeben als auch ein gewisses Maß an informalen Abweichungen dulden.
Ein anschauliches Beispiel liefert Luhmann (Luhmann 1976, 2016): Der neue Chef mag formal alle Kompetenzen haben – doch informal fehlt ihm das Wissen über eingespielte Abläufe und stillschweigend getroffene Übereinkünfte im Unternehmen. Was seine Vorgängerin oder sein Vorgänger intuitiv im Griff hatten, muss er sich erst erarbeiten. Fluch und Chance zugleich: Er kann scheitern – oder neue Wege finden.
"Brauchbare Illegalität" – oder: Was Regelbrüche funktional macht
In großen Organisationen braucht es mehr als bloßen "Dienst nach Vorschrift". Luhmanns Begriff der "brauchbaren Illegalität" bringt ein zentrales Organisationsparadoxon auf den Punkt: Viele Praktiken, die gegen Regeln verstoßen, sind für das Funktionieren der Organisation essenziell. Sie ermöglichen Anpassung, Geschwindigkeit, Kundenorientierung wo Dienst nach Vorschrift zum Organisationsversagen führt. Anders gesagt: Handlungsfähigkeit dort, wo Regeln versagen.
Das reicht von Workarounds in zu starren Prozessen bis zu allgemein akzeptierten Abweichungen in Vertrieb, Service oder Produktion. Führungskräfte, die diese Grauzonen verstehen und bewusst managen, bauen Vertrauen auf – und motivieren zu Leistungen, die rein regelkonform nicht erreichbar wären.
Luhmann beschreibt mit "brauchbarer Illegalität" ein Organisations- und Führungsverständnis, das sich nicht auf die Einhaltung von Vorschriften beschränkt, sondern auch informale Loyalitäten, Vertrauen und eingespielte Abläufe einbezieht.
Doch Vorsicht: Diese funktionale Melange von Formalität und Informalität ist nicht beliebig übertragbar. Der neue Chef steht vor dem Dilemma, dass er Regelverstöße sieht, aber (noch) nicht abschätzen kann, welche Konsequenzen es hat, wenn er sie duldet. Er riskiert durch ihre Duldung, erpressbar zu werden – denn anders als seine Vorgänger*in ist er nicht mit dem reziproken Spiel wechselseitiger Bindung vertraut.
Compliance: Steuerung durch Formalisierung – mit Nebenwirkungen
Compliance Management versucht, Regelverstöße durch Kontrolle, Sanktionierung und Entwicklung neuer Regeln zu vermeiden (Kette, 2019). So werden Orientierung, Sicherheit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit und letztlich Rechtssicherheit geschaffen. Doch häufig erzeugt es genau jene Nebenwirkungen, die es verhindern will: Es verstärkt die formale Struktur, produziert organisational fragliche Schauseiten, schwächt die Eigenverantwortung und drückt die Widersprüche zwischen Regeleinhaltung und Regelverstoß (noch stärker) in den informalen Bereich der Organisation.
Somit ist Compliance Management nicht nur ein Kontrollinstrument, sondern es verändert Organisationen strukturell (und über Umwege auch informal). Indem es das Verhältnis zwischen formaler und informaler Ordnung neu justiert, wird Informalität systematisch verschoben.
Einen extremen Fall dafür stellt der VW-Dieselskandal dar (Schumacher et al 2024). Unter dem hierarchischen Druck ("Geht nicht, gibt es nicht!") und gefangen im Konflikt zwischen widersprüchlichen Anforderungen entwickelten die Software-Ingenieure eine kreative, aber illegale Lösung. Organisatorisch betrachtet waren Koordination und Problemlösekompetenz ungewöhnlich. Doch durch ihre Illegalität vergiftete diese Form des Managements der Widersprüchlichkeit Vertrauen, Kultur und Reputation.
Wie kann das Management von Regelbefolgung und Regelbruch organisational unterstützt werden?
High Reliability Organizing: Weder blinder Gehorsam noch anarchische Freiheit
Einen besonderen Zugang zum Umgang mit Regeln bieten High Reliability Organizations (HROs). Organisationen wie Fluglinien, Atomkraftwerke oder Intensivstationen, in denen Fehler gravierende Folgen haben, stehen unter hohem Druck, absolut zuverlässig zu funktionieren.
Die Forschung zu Hochzuverlässigkeit in Organisationen (u.a. Weick & Sutcliffe, 2003, Gebauer, 2017) ist dabei eindeutig: Zuverlässigkeit entsteht nicht durch starre Regeleinhaltung, sondern durch ein intelligentes Zusammenspiel von Standards und Achtsamkeit gegenüber Abweichungen. Das Prinzip lautet: So viele Regeln wie nötig – aber nicht mehr als hilfreich. Entscheidend ist die Fähigkeit, in Polaritäten zu denken: zwischen Präzision und Improvisation, Struktur und Intuition.
Typische HRO-Organisationspraktiken, die den gekonnten Umgang unterstützen sind z.B.
- Briefing- und Debriefing-Formate mit Fokus auf Abweichungen,
- Echtzeit-Sensemaking ("Was ist heute anders als sonst?"),
- Rollenklärung zum Aufbau von Regelabweichungskompetenz oder
- Rituale kollektiver Achtsamkeit statt Dokumentationspflicht.
- "Phronetic Pivoting": Compliance und "praktische Klugheit"
Jian und Fairhurst (2025) zeigen in ihrer empirischen Studie zum Thema Compliance, dass es nicht reicht, Vorgaben anzuordnen und umzusetzen, sondern es gilt, Spannungen im Zusammenhang mit Compliance auszuhalten und produktiv zu gestalten. Das erfordert nicht bloß Techniken, sondern "Phronetic Pivoting", die Fähigkeit, die strikte Regelbefolgung und die einfühlende, kontextbewusste Steuerung abgestimmt auf die jeweilige Situation zu gestalten. Sie zeigen auf, wie der Umgang mit Regeln und Regelabweichungen organisational unterstützt werden kann, z.B. durch
- "Vegas Rules" (geschützte Gesprächsräume für informelles Lernen),
- empathisches Lernen (z.B. durch Plattformen zum Perspektivwechsel zwischen Linien- und Kontrolleinheiten) oder
- punktuellen Perspektivenwechsel innerhalb formaler Formate (z.B. Audit-Workshops).
Dabei geht es darum, zu ermöglichen, statt durchzusetzen, zu vernetzen statt zu kontrollieren und zu reflektieren, statt zu normieren.
Regeln managen heißt auch, Regelabweichung zu verstehen
Organisationen als Kooperationsarenen brauchen ein Bewusstsein für die Spannungsfelder, in denen Regeln wirken – und gebrochen werden müssen. Ein Familienunternehmer nannte es kürzlich "einfach gesunden Menschenverstand". Gutes Organisationsdesign schafft deshalb Räume, in denen die Regelungsintention mit der lokalen Rationalität der Beteiligten abgeglichen werden kann. Nicht um den "Bock zum Gärtner" zu machen, sondern um Regelwirkungen und Nebenfolgen vordenken zu können. Die nachfolgenden Fragen können helfen, Organisation im Spannungsfeld zwischen abstrakten Regeln und konkreter Praxis zu gestalten:
- Welche informalen Routinen sind bei uns funktional – und warum?
- Wo entstehen losgelöste organisationale Schauseiten? Welche Regeln brauchen ein Update?
- Wie nutzen wir horizontale Verknüpfungen über Funktionen hinweg?
- Wo wird „brauchbare Illegalität“ zur toxischen Selbstverständlichkeit?
- Wie viel Struktur brauchen wir – und wo reicht der gesunde Menschenverstand?
Kurz gesagt: Organisationsdesign ist keine Frage des perfekten Modells – sondern des intelligenten Umgangs mit Spannungsfeldern und Polaritäten.
Literatur
Gebauer, A. (2017). Kollektive Achtsamkeit organisieren: Strategien und Werkzeuge für eine proaktive Risikokultur. Schäffer-Poeschel.
Jian, G., & Fairhurst, G. T. (2025). Phronetic Pivoting between Compliance and Care: Engaging paradoxes and disequilibrium in organizing risk. Organization Studies, 46(2), 215-245.
Kette, S., & Barnutz, S. (2019). Compliance managen: Eine sehr kurze Einführung. Springer.
Luhmann, N. (1976). Funktionen und Folgen formaler Organisation. In. Duncker & Hublot.
Luhmann, N. (2016). Der neue Chef. Suhrkamp Verlag.
Weick, K. E., & Sutcliffe, K. M. (2003). Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. Klett-Cotta.