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18. Dezember 18

Wie Führung sich auf Ambidextrie vorbereiten kann

Ausgangslage

Ein mittelständischer Dienstleister der Versicherungsbranche hat in den letzten Jahren deutliche Anstrengungen unternommen, den Herausforderungen der Digitalen Transformation offensiv zu begegnen, u.a. hat man sich mit Investitionen in das Ökosystem der FinTech- und InsurTech-Branche am Markt positioniert. Intern wird eine Zukunftseinheit gegründet und diese wird mit ihren Innovationsimpulsen zunehmend wirksam. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Einheit treiben dabei als Impulsgeber und Projektleiter eine Reihe von Initiativen der Digitalen Transformation in unterschiedlichen Geschäftsfeldern und Bereichen voran.

Case for action für erste Schritte zur Kulturentwicklung

Das Unternehmen entwickelt auf diese Weise eine eigene organisationale Antwort auf die aktuellen Herausforderungen. Es gerät damit zunehmend in die typische organisationale Ambidextrie zwischen "klassischen", an Wertschöpfung und Selbstoptimierung orientierten Einheiten auf der einen Seite (Exploit) und innovativen Pionieren mit Fokus auf Irritation der bisherigen Wertschöpfung und Entwicklung neuer Geschäftsmodelle auf der anderen Seite (Explore).

Dies führt zu typischen Spannungsfeldern und Phänomenen:

  • Kulturell zeigen sich erste Anzeichen einer Spaltung zwischen "neuer" und "alter" Welt. Mittlere Führungskräfte fühlen sich irritiert und verunsichert von den Impulsen der Zukunftseinheit.
  • Sinnhaftigkeit und Change-Story hinter den Innovationsinitiativen werden nicht ausreichend deutlich. Die Impulse scheinen manchen Führungskräften und Schlüsselpersonen als zu unverbunden und erratisch getrieben. Dadurch entstehen Glaubwürdigkeits- und Umsetzungsprobleme. 
  • Die Zukunftseinheit wird zu einer Sammeladresse für alle innovativen Impulse der Organisation - mit dem Risiko, dadurch paradoxerweise auch Energien und Verantwortlichkeiten für Eigenentwicklung aus den Bereichen abzuziehen. 
  • Vielen Führungskräften fehlt zunehmend der Kompass für Prioritätensetzung und eigenes Handeln. Sie sehen sich mit Forderungen nach einem "agilen Mindset" und "Digital Leadership" konfrontiert, ohne einschätzen zu können, welche neuen Fähigkeiten und Handlungsweisen von ihnen erwartet werden.

Die Anfrage

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Ausgangslage suchte das Unternehmen nach geeigneten Initiativen und Maßnahmen, um ein stärkeres Alignment in der Gesamtorganisation zum digitalen Wandel zu erreichen, die aktuellen Initiativen in eine stärker verbundene konsequente Story zu bringen, mehr Klarheit darüber zu erreichen, welche Anforderungen zukünftig an Führung und Management gestellt werden und wie "New Leadership" im Hause aussehen könnte und sollte.

Das Angebot: Interventionsebenen und Kriterien

Wir sahen einen dringlichen "Case for action" für das Anstoßen und Umsetzen geeigneter Maßnahmen zur Erreichung der angestrebten Unternehmensziele. Die Notwendigkeit permanenter Innovation würde weiter steigen und die Herausforderungen für eine "beidhändige Führung" würden noch größer werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich dabei lediglich um eine vorübergehende Phase handelt, sondern um einen permanenter Zustand, für den es einen kulturellen "Musterwechsel" brauchte - bei Steuerung, Führung und Unternehmenskultur. Für eine proaktive Annahme der beschriebenen Führungsherausforderungen waren drei Interventionsebenen bedeutsam: 

  • Top-Management: Angebote für digitale Awareness und gemeinsames Alignment 
  • Mittleres Management: Angebote für eine stärkere Bewusstheit und Klarheit zum Umgang mit "beidhändiger Führung" 
  • Parallel dazu: Ebenenübergreifender Diskurs zur Deutung der Herausforderungen für die eigenen Einheiten und das Zusammenspiel im Rahmen von Dialogforen

Konzeptioneller Kompass für unsere Maßnahmen waren die fünf Erfolgskriterien für Leadership und Unternehmenssteuerung in ambidextren Organisationen. Sie wurden von Tushman & O'Reilly III in einer Meta-Analyse zur Steuerung von Unternehmen in disruptiven Branchen abgeleitet:

  1. Begeisterung des Führungsteams - um eine emotional ansprechende strategische Absicht herum
  2. Klären, wo die Spannungen zwischen Explore und Exploit in der Organisation angesiedelt sind
  3. Offenes Austragen von Spannungen und Konflikten im Führungsteam
  4. Bewusstes Führen der verschiedenen Einheiten entlang unterschiedlicher Standards: Consistent Inconsistency
  5. Regelmäßige Besprechen und Anpassen von Entscheidungen und Entscheidungsfindungsprozessen für unterschiedliche Organisationseinheiten

Alle Interventionen sollten auf einer grundsätzlichen Wertschätzung der organisationalen Beidhändigkeit basieren. Die Formate sollten so aufgesetzt werden, dass sie als Einzelimpulse zunächst ohne einen zu hohen Aufwand optional gewählt werden konnten und gleichzeitig in ihrer Gesamtheit wertvolle Impulse gegen Beharrungstendenzen und für eine koordinierte Bewegung der Gesamtorganisation liefern würden.

Konkrete Beispiele für Initiativen und Maßnahmen auf Top Management-Ebene 

  • Current State Assessment zur Innovationsorientierung
    Kurze qualitative Analyse von Innovationsorientierung und digitaler Fitness der Organisation und Ableiten von Entwicklungsbedarfen für die organisationale Steuerung und Führung:

    • Gemeinsame Einschätzung und Orientierungsraster zu Richtung und Intensität der gewollten"Bewegungsrichtung" der Organisation zwischen Stabilität und Innovations- und Netzwerkorientierung
    • Verdeutlichen der unterschiedlichen Veränderungs- und Innovationsbedarfe in den Geschäftsfeldern und Bereichen (Consistent Inconsistency).
    • Intensiver Austausch mit der oberen Führungsebene 

  • Future Leadership "Beidhändiges Führen"
    Workshop zum Formulieren von Leitplanken für zukünftiges Führungshandeln:

    • Sensibilisieren für das Spannungsfeld zwischen Bestandsgeschäft und Innovation im Unternehmen
    • Kritisches Einordnen und Aushandeln der Bedeutung aktueller bzw. moderner "Spielarten" von Führung für die eigene Organisation und das eigene Geschäftsfeld (Agilität, Digital Mindset, Selbstorganisation, Empowerment, ...) 
    • Vereinbaren eines angemessenen Umgangs mit dem Spannungsfeld zwischen der fehlenden Gewissheit über Folgen Digitaler Transformation und dem Wunsch der Mitarbeitenden, eine klare Orientierung (durch die Unternehmensspitze) zu erhalten
    • Entwickeln von Leitplanken zu einem Führungsbild, das dem ganzen Unternehmen einen konsistenten Rahmen bietet und zugleich Unterscheidungen beschreibt (consistent inconcistency)

Gestaltung von übergreifenden Dialogforen für Führungskräfte aller Ebenen

  • Diskussions- und Austauschforen zur "Beidhändigkeit von Führung"

    • Niedrigschwellige Ebenen- und hierarchieübergreifende Austauschforen, die in Größe und Sequenz variierten
    • Thematisieren aktueller Spannungsfelder und Einschätzungen im Umgang mit Bestandsgeschäft und grundlegender Innovationsnotwendigkeit
    • Möglichkeit, eigene Irritationen und Zukunftsängste in einem geeigneten und geschützten Rahmen ansprechen zu können

Ein Prozess der gemeinsamen Ausdeutung der scheinbaren Widersprüche in der Ambidextrie braucht immer auch einen ebenenübergreifenden Diskurs. Solche Veranstaltungen sollten in der ersten Phase auf jeden Fall kompetent moderiert werden, um inhaltliche Einordnung und persönliche und soziale Auseinandersetzung auch im Wortsinne zu fördern. Auf jeder Veranstaltung sollte wenigstens temporär ein Mitglied des Top Managements anwesend sein. Zentrales Thema dabei sollte das Spannungsfeld zwischen dem Heute und dem Übermorgen sein. In der Organisation aber auch in der eigenen Person.

Zeichnung: Till Lassmann. BarCamp zu Ambidextrie in Hamburg, Mai 2018

Qualifizierungsangebote für das mittlere Management on demand

  • Nuggets for New Leadership
    Angebot einiger kurzer (2stündiger) Qualifizierungsbausteine, um die zukünftige Bewegungsrichtung für Führung besser einordnen zu können
  • Being Digital
    osb-i Training zur Weiterentwicklung des eigenen Verständnisses der Digitalen Transformation: 1-2tägiges Format. Erläuterungen aller organisational relevanten digitalen Entwicklungen (Big Data, Blockchain, IoT, ...). Ableitungen für den eigenen Verantwortungsbereich und Einschätzung der zukünftigen Betroffenheit, Reflexion des eigenen Bewertungs- und Skillsets.
  • Becoming Agile
    osb-i Training, um die Herausforderungen einer in Teilbereichen agilen Organisation besser einschätzen und auf den eigenen Bereich übertragen zu können: 1-2tägiges Format. Klären und Differenzieren des Verständnisses von Agilität auf den Ebenen Haltung, Methodik, Führung, Organisation, Auseinandersetzen mit der Sinnhaftigkeit und Möglichkeit agilen Vorgehens im eigenen Verantwortungsbereich. 
  • Digital Leadership
    osb-i Training, um die Zukunft der Führungsrolle in stärker digitalisierten Umgebungen besser antizipieren zu können: 1-2tägiges Format. Zentrale Fragen: Wie lassen sich Innovation und Kreativität in die eigene Einheit bringen? Wie fördert man "Collaborative Leadership"? Welches Kompetenzprofil wird man zukünftig brauchen?

Bewertung und Ausblick

Aus unserer Sicht ermöglichen die Kriterien von Tushman und O'Reilly III einen ersten orientierenden Rahmen, um der Vielfalt und häufig gefühlten "Zufälligkeit" der Impulse und Initiativen zur Entwicklung von Ambidextrie einen sinnhaften Kontext zu geben. Diese werden aus unserer Sicht sowohl in der Praxis des Organisationsdesigns als auch im Veränderungsprozess zur ambidextriefähigen Organisation noch nicht konsequent genug angewandt.

Auf der emotional-psychologischen Ebene besteht aus unserer Sicht zusätzlich noch großer Bedarf, um sowohl für das Führungssystem als auch auf der Mitarbeiterebene Angebote für die häufig erlebten Spannungen anzubieten. In einem im Mai dieses Jahres von uns durchgeführten Bar Camp zu Ambidextrie in Organisationen diskutierten die teilnehmenden Praktiker, Wissenschaftler, MA-Vertreter und Berater vor allem jene Fragen besonders intensiv, die sich mit den möglichen kritischen Folgen eines stärkeren Empowerments der Einzelpersonen auseinandersetzen:

  • Wie geht man damit um, dass die "psychologischen Verträge" zwischen dem Einzelnen und dem Unternehmen umgeschrieben werden müssen (durch neue Botschaften und Erwartungen zu Mitgliedschaft und Beteiligung)? 
  • Wie lässt sich ein Mindset zu Ambidextrie entwickeln, wenn die äußeren Anforderungen die menschliche Kapazität des Informations- und Rollenverhaltens überfordern?

Hierfür werden übergreifender Austausch und Good-Practice Sharing in Zukunft noch wichtiger werden. Wir laden Sie auch mit diesem Beitrag herzlich dazu ein!

Literatur: Tushman & O'Reilly III: Lead and disrupt", Stanford 2016  

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