20. Mai 25

Prozesse systemisch (neu) denken
Viele Unternehmen und Organisationen haben erkannt, dass die Effektivität und Effizienz ihrer Geschäftsprozesse entscheidend für die Leistungsfähigkeit ihrer Organisation sind und haben wiederholt Anstrengungen unternommen, diese Prozesse zu beschreiben und zu optimieren.
Trotzdem bleiben sie immer wieder deutlich hinter ihren Erwartungen zurück. Prozesse werden aufwändig beschrieben und Verbesserungen identifiziert und umgesetzt. Aber die Prozesse werden nicht wirklich "gelebt" und eher als Störung, denn als Orientierungshilfe empfunden. Und das, obwohl das Wissen über Methoden und Instrumente der Prozessoptimierung mittlerweile sehr verbreitet ist.
Im Rahmen unserer Beratungsprojekte legen wir den Fokus auf die Gestaltung wirksamer und nachhaltiger Prozesse. Wir nutzen die Arbeit an der Prozessbeschreibung als Intervention, um die Lebbarkeit des Prozesses zu optimieren. Darum lohnt es sich unserer Erfahrung nach, die grundlegende Frage zu stellen, was Prozesse überhaupt sind und was deren Beschreibung und Bearbeitung im Kern bedeuten und erfordern. Als besonders hilfreich hat sich hier der Rückgriff auf systemtheoretische Grundfiguren erwiesen, um tieferliegenden Herausforderungen und auch neuen Herangehensweisen auf die Spur zu kommen.
An dieser Stelle möchten wir drei unserer Hypothesen vorstellen, wie Prozesse systemisch neu gedacht werden können:
1) Prozesse als "Entgrenzung" der Organisation
Nach der neueren Systemtheorie muss ein soziales System sich selbst von seiner Umwelt abgrenzen, um mit der prinzipiell unbegrenzten Komplexität produktiv umgehen zu können. Wenn sich also eine Organisation in Abteilungen oder andere Organisationseinheiten ausdifferenziert, dann erlaubt dies z.B. dem Vertrieb, sich auf Vertriebsziele zu konzentrieren und innerhalb des Vertriebs verstärkt in der ganz eigenen Vertriebslogik zu kommunizieren. Die Erweiterung auf übergreifende (End-to-end-)Prozesse bedeutet dann eine "Entgrenzung" bestehender Organisationseinheiten (bis hin zur Einbeziehung des Kunden als zentralen Bezugspunkt des Prozesses) – und damit einen "Angriff" auf bestehende und funktionierende Wege, Komplexität zu reduzieren. Als Vertriebsmitarbeiter*in kann ich mich dann nicht mehr nur auf den Vertrieb konzentrieren, sondern muss z.B. technische Anforderungen aus der Produktentwicklung und der Fertigung mitdenken.
Daraus folgt für die Modellierung und Gestaltung von Prozessen: Statt die vielfach kritisierten "Silos" abzuschaffen, ist es anzuerkennen, dass Grenzen zwischen Organisationseinheiten notwendiger Bestandteil effizienter und geregelter Arbeitsteilung sind – auch in einer stärker auf Prozesse ausgerichteten Organisation. Es gilt, einen "collaboration overload" zu vermeiden, indem die Koordination und Zusammenarbeit über Prozesse möglichst effizient und einfach gestaltet werden. Die erhöhte Komplexität für den Einzelnen muss sich bezahlt machen, zumindest durch eine bessere Komplexitätsbeherrschung für die Gesamtorganisation, aber auch durch ganz konkrete Vorteile für die beteiligten Organisationseinheiten (z.B., wenn ein technisch geschulter Vertrieb verbesserte Beratungsleistung anbieten kann und so späte Änderungen in den Kundenanforderungen reduziert werden können).
2) Prozesse als "Konstrukt"
Prozesse sind per se abstrakter als Abteilungen oder Geschäftsbereiche, die für die Beteiligten eine ihnen vertraute, verortbare Heimat bieten. Darüber hinaus sind Prozessbeschreibungen immer nur ein Modell der tatsächlichen Muster der Zusammenarbeit in Organisationen – das, je nachdem, wen man fragt, anders ausfallen wird. Denn nach der neueren Systemtheorie ist ein soziales System nicht objektiv gegeben, sondern liegt immer im Auge des jeweiligen Beobachters. Deshalb ist es auch der Normalfall, wenn zu Beginn einer Prozessmodellierung mit acht Fachabteilungen mindestens acht verschiedene Prozessbeschreibungen vorliegen.
Für die Modellierung und Gestaltung von Prozessen bedeutet dies: Es ist wichtig, zu Beginn die Unterschiede in der Prozessbeschreibung – wie sie von den am Projekt Beteiligten eingebracht werden – herauszuarbeiten und für eine kreative Prozessgestaltung produktiv zu nutzen. Denn diese Unterschiede sind oft Ursache für mögliche Konflikte und bieten das Potenzial, Prozesse neu oder anders zu beschreiben und zu gestalten. Gleichzeitig gilt es, zügig und konsequent auf eine gemeinsam ausgehandelte Prozessbeschreibung als Basis für eine effektive und effiziente Zusammenarbeit zuzusteuern. Besonders wichtig ist auch der Blick auf Gruppendynamiken. Durch welche Methoden lassen sich z.B. in konkurrierenden Abteilungen Verständnis, Akzeptanz und Vertrauen in Bezug auf den zukünftigen SOLL-Prozess aufbauen? In unserer Praxis spielt hier auch eine intuitiv zugängliche, physische Modellierung mittels Post-its usw. eine wesentliche Rolle, um die direkte Interaktion der Gruppen mit dem Prozess zu ermöglichen. Erst wenn ein gemeinsames Verständnis erarbeitet wurde, erfolgt die Prozessmodellierung im gewählten Standard am Computer.
3) Prozesse als (Abfolge von) Entscheidungen
Nach der neueren Systemtheorie ist eine Entscheidung nur dann eine Entscheidung, wenn weitere Entscheidungen daran anschließen. Folglich ist nicht die einzelne Entscheidung für sich wichtig, sondern vielmehr, ob diese Entscheidung auch umgesetzt wird und es zu daran anschließenden Folgeentscheidungen kommt.
Für die Modellierung und Gestaltung von Prozessen bedeutet dies: Prozesse werden nur dann wirksam gelebt, wenn die Beteiligten gemeinsam drei grundlegende Entscheidungen treffen und auch konsequent danach handeln.
(1) Sie entscheiden sich, einen bewussten Perspektivenwechsel zu vollziehen und nicht mehr nur die eigene Organisationseinheit zu optimieren, sondern mit Hilfe geeigneter Methoden der Prozessmodellierung auf ein Gesamtoptimum hinzuarbeiten.
(2) Sie sind bereit, trotz oft bereits vorliegender, jedoch nur teilweise gelebter Prozessbeschreibungen einen Neustart zu wagen.
(3) Und sie beschließen, Prozesse nicht nur zu beschreiben, sondern die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Veränderungsideen auch tatsächlich umzusetzen.
Die Modellierung und Gestaltung von Prozessen ist also – systemisch betrachtet – ein Prozess der Organisationsentwicklung, bei dem die Beteiligten selbst einen oft grundlegenden und mehrschichtigen Musterwechsel schrittweise umsetzen müssen. Ziel ist eine Veränderung am System und nicht nur im System.
Ein systemtheoretisch fundiertes Prozessverständnis und entsprechende Interventionsformen, die Prozessgestaltung als Veränderungsprozess verstehen und gestalten, können entscheidend dazu beitragen, diesen Musterwechsel zu vollziehen.
Daher haben wir zu diesem Thema ein internes Entwicklungsteam gegründet – und freuen uns darauf, mit Ihnen zur Frage, wie sich Prozesse systemisch wirksam und nachhaltig gestalten lassen, ins Gespräch zu kommen.
Weiterführende Literatur:
Cross, R. et al. (2022): How to fix collaboration overload. Harvard Business Review. Dezember.
Feldbrügge, R. (2021): Systemisches Prozessmanagement. Schäffer-Pöschel.
Simon, F.B. (2017): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Carl Auer.