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18. Oktober 22

Lernökosysteme – faszinierend und herausfordernd zugleich!

Ein Zwischenresümee

Als Jan Foelsing und Anja Schmitz anlässlich unserer osb-i Klausur vor ca. 1,5 Jahren ihre Thesen zu Lernökosystemen darlegten, waren wir sofort von diesem Ansatz überzeugt. Es war abzusehen, dass die unterschiedlichen, oft fragmentierten Lerninitiativen ganzheitlich als Lernökosystem zu betrachten und gesamthaft weiterzuentwickeln, für Unternehmen ein großes Thema werden würden. Ihr fundiertes Buch "New Work braucht New Learning" (2021) ist auch tatsächlich eine hervorragende Quelle an Inspirationen und relevanten Erkenntnissen geworden.

Heute sind viele Unternehmen bereits im Experimentieren, wobei Hybrid Work und New Work sowohl Impulse für die Notwendigkeit des Lernökosystem-Ansatzes als auch spannende neue Formate liefern. In einer Lernökosystem-Perspektive werden alle Lernelemente und ihre Dynamik zusammen betrachtet, also alle Communities von Lernenden und deren Interaktion, alle Technologien, Daten, Online- / Präsenz- und Web-Formate, das Zusammenspiel zwischen den internen und externen Partner*innen etc.  Bei der Entwicklung von "reifen" Lernökosystemen geht es darum, dieses gesamte System im Sinne der Strategie, des Organisationspurposes wirksam werden zu lassen und nachhaltig eine konstruktive Eigendynamik zu entwickeln. Foelsing und Schmitz machen diesen Reifegrad von organisationalen Lernökosystemen "an der Integration aller Elemente" fest.  (Foelsing  J.; Schmitz, A  (10/2021)  Reset  für die Lernkultur. New (Work) Learning Corporate Learning. Zeitschrit managerSkills. Ausgabe 283. S.71) .

Wir verfolgen diese Ansätze und möchten ein erstes Zwischenresümee der Chancen und Herausforderungen ziehen.

Potentiale und Herausforderungen von Lernökosystemen
Komplexität und Geschwindigkeit der Veränderungen machen für Organisationen das Lernen überlebenswichtig.

Rasches und effektives Lernen braucht es sowohl für die Implementierung von kurz-zyklischen Changes als auch für allgemeine Change-Fitness, für vorausschauende Selbsterneuerung, für Innovationskraft und auch, um die Herausforderungen der digitalen Transformation zu meistern. Wissen veraltet sehr rasch und Arbeit und Lernen sind nicht mehr trennbar. Eine konstruktive Fehlerkultur ist ein Teil einer guten Lernkultur.
Lernen bzw. effektiveres und nachhaltigeres Lernen müssen einen zentralen Stellenwert bekommen und in eine ganzheitliche Betrachtung gestellt werden.

Die Bedürfnisse des/der Lernenden in den Mittelpunkt stellen: Learner Experience verbessern

Zentrales Ziel von Lernökosystemen ist individuelles Lernen (bei Foelsing/Schmitz die Mikro-Ebene) in hohem Maß anwenderorientiert und selbstbestimmt zu gestalten sowie die persönliche Lernkompetenz zu steigern. Das entspricht der Erkenntnis, dass Lerninhalte nicht in Köpfe gepresst werden können und  die positiven Gefühle genutzt werden sollten, die bei Lernerkenntnissen freigesetzt werden. Weiters geht es darum, Wissen und Lernen möglichst dann stattfinden zu lassen, wenn es gebraucht wird (und es daher nicht mehr zentral zu steuern), ja mehr noch, eine Ad-hoc Unterstützung "anytime, anywhere on any device" liefern zu können.  Dies kann zunächst über ein breitgefächertes Angebot geleistet werden (Foelsing/Schmitz nennen es die Meso-Ebene), in der virtuelle, digitale, und Präsenzformate klug kombiniert werden. Darüber hinaus soll mittels Learning Analytics und Nudging (verhaltensökonomischer Ansatz nach Thaler/ Sunstein) auf weitere Lernthemen aufmerksam gemacht werden. Selbstbestimmtes Lernen nach dem "pull"-Prinzip bezieht sich weiters nicht nur auf Lernart, Zeitpunkt und Format sondern auch darauf, dass Lernende selbst zu Impulsgeber*innen werden und ihr Wissen an andere z.B. in Form eines selbstproduzierten Lernvideos oder Podcasts weitergeben und dass sie natürlich miteingebunden sind, die nächsten Lernthemen zu benennen und ggf. zu gestalten.
Damit das gelingen kann, muss das Lernen selbst zum Lerngegenstand werden. Die schulerlernte Lernkompetenz reicht da meist nicht aus, es braucht effektivere Lernstrategien und ein entwicklungsorientiertes "Growth Mindset" (Dweck: Wie lerne ich am besten - wie lernen wir am besten – und: wie werden wir noch besser darin?).
New Learning baut hier auf bekannten Lerntheorien auf (die wir noch ausbaufähig finden) und hat jedenfalls eine Reihe neuer Lern-Formate hervorgebracht bzw. weiterentwickelt, die sehr anregend sein können.

Um die Möglichkeiten und das Potential eines Lernökosystemansatzes zu nutzen, sehen wir aktuell folgende Herausforderungen:

Lernökosystem vorrangig als Plattformthema sehen

Lernökosysteme werden oft zu stark technisch und bezogen auf IT-Plattformen betrachtet. Über Plattformen lässt sich einfach ein breites (oft virtuelles) Angebot darstellen, manche Plattformen versprechen auch ein Nudging durch learning analytics und social collaboration. Die technischen Lösungen sind oft sehr teuer und binden viele Ressourcen. Das erschwert eine einheitliche Lösung und das Thema "Lernen" wird deshalb oft an IT und HR ausgelagert. 

Ein breites Lern-Angebot bedeutet noch kein nachhaltiges Lernen

Selbst Wissensvermittlung "on demand" garantiert noch kein Lernen. Technische Quiz und Challenges sind nur eine oberflächliche Antwort. Es benötigt - wie beim Lernen auch bisher - die Möglichkeit, das Wissen anzuwenden, die Wiederholung sowie den Rahmen, um miteinander über Lernerkenntnisse zu sprechen. Der soziale, interaktive Aspekt ist deshalb so wichtig, weil bei virtuellen Formaten die Gefahr groß ist, dass Lernen vereinzelt (z.B. in einsamen Webinaren am Abend) stattfindet. Es gilt also gezielt darauf zu achten, dass Zeit und Aufmerksamkeit auf dem tatsächlichen Kompetenzaufbau liegen.

Das berührt auch den nächsten Schlüsselfaktor:

Wie wird individuelles Lernen zu organisationalem Lernen?

Individuelles Wissen / Können ist erst dann organisational wirksam, wenn es passend eingebracht wird und wenn es von Anderen in der Organisation genutzt wird, wenn es also auf Resonanz stößt. Kollektive Intelligenz braucht darüber hinaus kollaboratives Lernen, also das gemeinsame, multiperspektivische Suchen nach Lösungen, um zu einer neuen Betrachtungsweise zu kommen und dies zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Situation.

Gelerntes Wissen wird anderen zur Verfügung gestellt und von diesen auch genutzt

Dazu gibt es eine Reihe von Methoden wie etwa: Das Erstellen von "Knowledge-boards" nach Seminaren, um das Wissen anderen zur Verfügung zu stellen oder "Learning out Loud"-Formate  bzw. Mitarbeiter*innen bieten selbst Workshops an.
Damit diese individuellen Wissensperlen nicht im Nirvana der Plattformen und Angebote versinken (wie oft bei Sharepoints und Wikis) braucht es eine Kultur des Zugreifens auf das Wissen Anderer, der Resonanz der Mitarbeiter*innen, ein Nachschauen im internen Wissenssystem, ein Nachfragen bei Kolleg*innen und eine hohe Wertschätzung dafür, dass man auf dem Wissen anderer aufbauen kann.

Wie kommt man zu gemeinsamen Landkarten des Handelns?

Erfolgskritische Themen (eine neue Technologie, Umgang mit Veränderungsvorhaben) brauchen eine gemeinsame Sprache und gemeinsam getragene Landkarten des Handelns, um effektiv bearbeitet werden zu können. Gerade bei virtuellen Formaten und Lerneinheiten "on demand" fehlt oft einerseits die Sicherstellung, dass alle diese vermittelten Definitionen und Vorgangsweisen tatsächlich von allen gelernt wurden und angewendet werden und andererseits entsteht das "gemeinsame Gehirn" eben nur im Vergemeinschaften, miteinander Sprechen und gemeinsamen Nutzen der Landkarten.

Gemeinsam neues Wissen erarbeiten – kollaboratives Lernen

Es braucht ausreichend Gelegenheiten, um sich beim Lernen miteinander zu vernetzen, funktionsübergreifend zu denken und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Für dieses kollaborative Lernen oder für informelles Lernen dienen spezifische Formate zur Erarbeitung gemeinsamer Lösungen für konkrete Probleme wie etwa learning communities, "lunch&learn", "Learning Fridays" oder "ship it days", design sprints oder hackathons.

Wer treibt NEUE Lernthemen voran?

Während es beim exploitativen Wissen (das aktuelle Kerngeschäft betreffend) darum geht, Up-to-date zu bleiben (Up-skilling) bzw. rasch die Kompetenz neuer Mitarbeiter*innen zu entwickeln, bezieht sich exploratives Lernen auf Wissen oder Können, das zukünftig relevant werden könnte. Exploratives Lernen braucht einen eigenen Fokus. Hier kann man sowohl auf die Neugierde und Employability-Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen setzen als auch von Seiten der Führung Themenfelder vorgeben, die zu erkunden sind (z.B. relevante neue Technologien). Es geht u.a. darum, den Lernprozess in den Vordergrund zu stellen, Themen in einem weiteren Kontext besser zu verstehen bzw. neu zu betrachten und längerfristige Entwicklungsprozesse zu stärken.

Welche Rolle hat Führung darin?
In dieser Intensität bedeutet das Thema "Lernen" eine neue Aufgabe für Führung.

Rahmen

Führende Kräfte sollten zunächst gute Rahmenbedingungen schaffen (Foelsing/Schmitz nennen dies die Makro-Ebene), um Lernen nachhaltig zu fördern. Das beginnt beim technischen Set-up, den Rollenverteilungen zwischen Führung / HR / Learning Facilitators / Mitarbeitenden, dem dafür notwendigen Budget sowie einem  Ziel- und Anreizsystem, das Zeit für Lernen und Lernerfolg mit einkalkuliert.

Themensetzung sowohl von Führung als auch selbstorganisiert

Führung hat die originäre Aufgabe, Ist-/Soll-Vergleiche anzustellen und Impulse zu setzen. Dies gilt auch für den neuen Fokus "Lernen".
In diesem Sinne kann das Thema Lernökosysteme nicht einfach an HR oder IT ausgelagert werden, sondern Führungskräfte müssen sich damit auseinandersetzen, wie die Verknüpfung zur strategischen Ausrichtung aussieht, für welche erfolgskritischen Themen es das Etablieren einer gemeinsamen Sprache braucht, welche neuen Technologien besondere Aufmerksamkeit verdienen, in welche Experimente investiert wird.  Dies ist zusätzlich zu den Lerneinheiten zu verstehen, die sich die Mitarbeitenden selbst organisieren. Führungskräfte sollten diese  selbstorganisierten, von den Mitarbeitenden auf die Agenda gesetzten Themen kennen, um daraus z.B. Trends abzuleiten die für andere Bereiche oder unternehmensweit relevant sein könnten.

Next Level Lernkultur

Was so einfach mit "einen neuen Level an Lernkultur etablieren" beschrieben wird, bedeutet häufig einen intensive Veränderung, die durch mehrere Stellhebel (vgl. auch Artikel von Lernökosysteme – eine Befragung) unterstützt werden muss. Gelingen kann dieser Kulturwandel nur, wenn er als  kollektiver Akt aller führenden Kräfte verstanden wird, mit der Bereitschaft zum gemeinsamen Steuern.

Das Lernen führen

In einer direkten Führung bedeutet es, sich als professioneller Lerncoach zu verstehen: Lernziele (beruflich, persönlich, kollaborativ) in Mitarbeiter*innen-Gespräche zu integrieren, Ressourcen, Boni und Anerkennung für Lernbeiträge bereitstellen, Verbesserung der Lernstrategien der Mitarbeiter*innen unterstützen. Im eigenen Verantwortungsbereich gilt es hinreichend psychologische Sicherheit (nach Amy C. Edmondson) aufzubauen, damit über Fehler, Defizite und Lernfelder, Scheitern von Experimenten gesprochen werden kann und das Erkunden neuer Themen gefahrlos möglich wird. Weiters gilt es Knowledge-sharing nach dem Prinzip "Wissen TEILEN ist Macht" (konträr zu "Wissen ist Macht") zu stärken und auf dem Können anderer aufzubauen und dies auch auszuschildern.

Persönlich bedeutet es, als führende Kraft selbst Vorbild zu sein, sich selbst als Lernende*r zu zeigen, eigene Lernerkenntnisse zu teilen. Dazu braucht es auch bei Führungskräften innere Landkarten für effektive Lernprozesse, Lernmethoden und gute Lernunterstützung.

Führungsentwicklung

Das gilt natürlich auch für die eigene Führungsentwicklung: Wer kümmert sich darum, dass die führenden Kräfte weiterlernen, dass aktuelle Herausforderungen (Ambidextrie, Hybrid Leadership, Fachkräftemangel, etc.) von Führung aufgegriffen werden? Auch sollte eine Diskussion im Führungsteam angestoßen werden, welche neuen Themen bzw. Herausforderungen eine Auswirkung auf die eigene Führung haben könnten und welche zusätzlichen Skills beziehungsweise welches Wissen daher hilfreich sein könnten. Diese generelle Offenheit für Fragen der Weiterbildung  wäre der beste Nährboden für eine nachhaltige Lernkultur und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem komplexen Lernökosystem.

Lesen Sie vertiefend dazu auch unseren Beitrag "Lernen im Lernökosystem - Einladung zu einem Austausch"

Literaturhinweise:

Bergmann, N., Scamperle, P., Pape, K., Dückert, (2020). Corporate Learning 2025. Lasst das Lernen frei. Zeitschrift managerSkills. Ausgabe 264.

Dweck, Carol S. (2008). Mindset. The New Psychology of Success. How we can learn to fulfill our potential. Ballantine Books.

Edmondson, A. C. (2020). Die angstfreie Organisation: Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen. Vahlen Verlag.

Foelsing, J., Schmitz A. (2021). New Work braucht New Learning. Gabler Verlag.

Learning Ecosystem Transformation - Learning Development Institute - LDi

Spezialdossier (2021). Corporate Learning. Zeitschrift managerskills, Ausgabe 10/2021.

Thaler, R. H., Sunstein, C. R. (2008). Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness. Yale University Press.

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