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16. Juli 24

Kulturentwicklung über Werte – Bericht aus der Praxis der Gelegenheiten

Kulturentwicklung gilt zu Recht als ein besonders anspruchsvolles Unterfangen. Wir Menschen entwickeln Kultur automatisch in fast allen dauerhaften sozialen Settings. Wir lernen sie durch Sozialisation ("das macht man hier so") und dann rutscht diese Verhaltensselektion ins Unbewusste, damit unser jeweiliges Verhalten im Team, im Sportverein, in der professionellen Community nicht mehr permanent verhandelt werden muss. Kultur selektiert also unser Verhalten "automatisch" und jedes Verhaltensmuster hat eine Funktion, auch wenn es mittlerweile dysfunktionale Aspekte aufweist oder nicht mehr zeitgemäß ist. Will man in Organisationen solch einen unbewussten und eingeschwungenen Zustand verändern, dann reicht es nicht, nur beim Verhalten oder dem "Mindset" anzusetzen. Es braucht ein Anpassen der organisationalen Rahmenbedingungen, die dieses Verhalten prägen. Dabei gilt es etwa Strukturen (wer übernimmt welche Verantwortung?), Prozesse (wer stimmt sich mit wem ab?) oder Anreizsysteme (wofür gibt es Boni, Aufmerksamkeit, Anerkennung?) entsprechend zu adaptieren. Eine solche Kultur-Veränderung braucht auch eine ausreichende Begründung in der besseren Zukunftsfähigkeit der Organisation und ihrer strategischen Ausrichtung und in rascheren Innovationen und Geschäftsmöglichkeiten.

Viele Organisationen nutzen zusätzlich Werte als Vehikel, um eine zukünftige Soll-Kultur explizit zu beschreiben. Eine Kulturentwicklung über Werte ermöglicht einer Organisation nicht nur eine Beschreibung der handlungsleitenden Soll-Kultur, sondern bietet auch eine Gelegenheit, den Identitätskern einer Organisation (neben Vision und Purpose) neu zu positionieren.

Auf welche Aspekte kommt es dabei besonders an?

Werteprozesse sind eine hervorragende Gelegenheit, um sich mit der Organisation zu re-identifizieren

Die Auseinandersetzung mit Werten ermöglicht es den Organisationsmitgliedern, sich (wieder) darauf zu besinnen, "was uns wichtig ist", "worauf es uns ankommt", "was uns leiten soll". Diese Gelegenheit, sich wieder zu identifizieren, ist jedoch nur dann gegeben, wenn es einen breiten Prozess der Einbindung gibt.

Diese Gelegenheit zu einer Re-Identifikation braucht auch dann, wenn die Werte niedergeschrieben, also in eine schöne Form gebracht wurden. Damit hier die Re-Identifikations-Möglichkeit nicht verpufft, sollten neue Werte aber nicht ausschließlich als Information ausgerollt werden. Mitarbeitende reagieren oftmals ablehnend bzw. erleben die Wertebeschreibungen als abstrakten "Schönsprech", der wenig mit der gelebten Realität zu tun hat. Statt eines klassischen Roll-outs braucht es eine Aktivierungsmöglichkeit, die Mitarbeiter*innen die Gelegenheit gibt, das, was ihnen wichtig ist und das, was sich davon in den Werten widerspiegelt, zu verbinden.

In einer Organisation (ca. 700 Mitarbeiter*innen) wurden die Werte und die dazugehörigen Handlungsprinzipien partizipativ erarbeitet. Die ersten Varianten wurden in Sounding-Boards auf den Prüfstand gestellt und auch die Führungskräfte aller Ebenen waren intensiv eingebunden. Das Ergebnis wurde in einer Mitarbeiter*innen-Veranstaltung vorgestellt, in der alle die Gelegenheit hatten, sich mit den Werten zu verbinden, indem sie sich an positiv aufgeladene Alltagssituationen erinnerten und überprüften, wo sich diese Situationen im Wertekanon widerspiegelten.

Warum gerade positive Situationen?

Positiv erlebte Situationen ermöglichen Bindung

Das Erinnern an positiv aufgeladene Situationen hat mehrfachen Nutzen:

Erstens bewertet unser limbisches System Situationen nach dem einfachen Prinzip: "Gut für dich – bleibe, verbinde dich". "Schlecht für dich – geh möglichst weg davon, dissoziiere dich". Die Erinnerung an positive Situationen ermöglicht es daher, sich leichter mit der Organisation wieder zu verbinden.

Zweitens wird die kommunizierte Wertebeschreibung mit positiven Erfahrungen verknüpft, was es angenehmer macht, sich an diese zu erinnern.

Drittens wird durch den Fokus auf positiv erlebte Situationen die Gefahr von "fingerpointing" reduziert. In jedem Werteprozess ist die Gefahr groß, dass Werte vor allem als Gebote genutzt werden, also dafür, andere darauf hinzuweisen, dass sie sich NICHT wertekonform verhalten. Das mag in Einzelfällen bei groben Verstößen notwendig sein, doch eine dauerhafte Veränderung kann in einem bewertenden Klima, in dem jede*r davon ausgeht, dass die anderen sich ändern sollten, nicht erreicht werden.

Jeder Beitrag zählt – auf Eigeninitiative und Verstärkungsmechanismen setzen

Es ist unmöglich, das komplexe Verhalten von Menschen in einer Organisation, in unterschiedlichen Meetings, in E-Mails oder Teamcalls zu kontrollieren. Daher ist es für Kulturentwicklung relevant, dass Mitarbeitende von sich aus den jeweiligen Werten entsprechen. Eine zu strikte Ziel-Kaskadierung fördert vor allem Widerstand gegen die Werteinitiative und erzeugt manchmal paradoxe Effekte wie "Du verhältst dich ja nur deshalb so freundlich, weil es in deinen Zielen steht". Deshalb ist es hilfreich, dass Mitarbeiter*innen sich aus einem Wertekanon jene Aspekte heraussuchen können, in denen sie selbst einen relevanten Beitrag zur Kulturentwicklung leisten wollen.

In der Landesgesellschaft eines internationalen Unternehmens, das von der Konzernzentrale einen Wertekanon "vorgeschrieben" bekommen hatte, hatten Führungskräfte und Mitarbeitende die Möglichkeit, sich zu überlegen, welche Aspekte dieses Wertekanons zu ihnen besonders gut passen, und wurden eingeladen, im Sinne von "Jeder Beitrag in den Wertezielraum zählt", diese verstärkt zu zeigen. So konnten sich die Führungskräfte jene Aspekte heraussuchen, die sie "von ganzem Herzen" als Role Model vertreten konnten.

Natürlich braucht es gleichzeitig auch einen gemeinsam getragenen Blick auf die Soll-Seite:

Ist und Soll in eine Besprechbarkeit bringen

Werte fangen typischerweise in der Vergangenheit an, als das "So-Geworden-Sein" und reichen bis in die Zukunft. Sie haben damit eine "Jetzt"- und eine "Zukunft"-Seite bzw. eine "Ist"- und eine "Soll"-Seite. Die Auseinandersetzung damit, welche Verhaltensaspekte aktuell bereits gut gelebt werden und daher (vielleicht sogar mehr) gepflegt und anerkannt werden sollten und welche Aspekte ergänzt, optimiert, neu erlernt oder auf einen höheren oder feineren Level gebracht werden sollten, ist wichtig und muss spezifisch in jedem Team geführt werden.

Im obigen Beispiel mit den von der Konzernzentrale verordneten Werten erarbeitete das gesamte Führungsteam, welche drei Verhaltensaspekte des Wertekanons das Business und die Zukunftsfähigkeit der Landesgesellschaft am stärksten voranbringen würden. Auf diese drei Aspekte fokussierte man sich im kommenden Jahr und vereinbarte gemeinsame Maßnahmen und ein regelmäßiges Monitoring.

Diese spezifische Einschätzung kann von Team zu Team unterschiedlich ausfallen, denn die eine Organisationseinheit ist möglicherweise im "einander challengen" besonders gut, sieht aber Nachholbedarf im "beharrlich bis zur Lösung bleiben", während ein anderes Team sehr gut "die Kundenperspektive einnimmt", aber kaum "voneinander lernt". Die Kraft der Weiterentwicklung entsteht durch die regelmäßige Auseinandersetzung mit Ist und Soll.

In obiger Organisation, die sich ihre Werte partizipativ erarbeitet hatte, wurde als regelmäßiger Ist-Soll-Abgleich vereinbart, dass in den jährlichen Bereichs- und Abteilungsklausuren ein Werte-Check mit einer Ist-Soll-Einschätzung und einer entsprechenden Maßnahmen-Vereinbarung stattfindet. Die vereinbarten Maßnahmen ermöglichten gemeinsames Lernen ("wie machen wir konkret ein Konsenting?"), das Ausprobieren von neuem Verhalten ("z.B. einander um Feedback bitten") und ein gemeinsames Auswerten ("das hat unseren Teamcall echt verbessert").

Führung braucht einen langen Atem und einen guten Riecher für gelungene Veränderung

Führung bzw. die Rolle der Führungskräfte ist für Kulturentwicklung zentral. Mitarbeitende beobachten genau, ob Führungskräfte und Führungsteams tatsächlich Vorbilder sind.
Führungskräfte können auf Basis der oben beschriebenen Einschätzung von Ist und Soll regelmäßig die Werte mit dem Team besprechen. Und natürlich kann Führung über anerkennendes "genauso – großartig" oder kritisches Feedback "so bitte nicht mehr" das Verhalten beeinflussen.

Die wichtigste Aufgabe jedoch ist zu wissen, wie extrem langsam sich solche kulturellen Verhaltensroutinen ändern. Und dass Ehrenrunden insbesondere in stressigen Kontexten dazugehören. Die vielen guten Beiträge dürfen nicht wegen ein paar Ausnahmen in hitzigen Phasen "weggeworfen" werden: "Wenn man den Kollegen heute im Krisen-Meeting gehört hat, sieht man ja eh, dass das Ganze nichts bringt."

Und Führung sollte die kleinen "Erfolgspflänzchen" der Kulturentwicklung sichtbar machen: "Die Meetings mit der Schnittstelle sind doch jetzt schon zum dritten Mal lösungsorientiert verlaufen – vor einem Jahr wäre das unvorstellbar gewesen."

Die graduelle Veränderung in einer Kulturentwicklung kann erst im Nachhinein beobachtet werden, denn das Selbstverständliche ist implizit. Um es mit den Worten einer Direktorin des oben beschriebenen internationalen Konzerns zu sagen: "Erst jetzt, wenn wir so zurückschauen, wird es mir deutlich: Vor 2 Jahren hatten wir noch darum gerungen, dass Mitarbeitende die Themen selbst vorantreiben und Ownership übernehmen. Letztes Jahr haben sie noch viele Fragestellungen zu uns hocheskaliert und heuer war es so selbstverständlich, dass sie das selbst in die Hand nehmen und es durchziehen – da ist uns echt viel gelungen."

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