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21. Juni 16

Interview mit Univ. Prof. Dr. Rudolf Wimmer aus der Studie "Leading in the Digital Age"

Auszug zum Thema Digitalisierung

Lieber Rudi, mit den grundlegenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft (zusammengefasst unter den Stichworten: Digitalisierung, Wissensarbeit, Globalisierung, Generationswechsel, Ende der Hierarchie) gehen auch Veränderungen in Organisationen einher.
Was sind Deines Erachtens die wesentlichsten Aspekte in Organisationen, die von diesen Veränderungen berührt bzw. betroffen sind?

Wenn man die Haupttreiber aus der Makroperspektive betrachtet, die zurückwirken auf die agierenden Organisationen, dann sind das im Wesentlichen drei: der Digitalisierungsprozess, der Internationalisierungs- bzw. Globalisierungsprozess und nicht zuletzt die ökologischen Herausforderungen, die uns ins Haus stehen. Diese drei Treiber der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung setzen ganz unterschiedliche Veränderungsimpulse. Es wäre ein Missverständnis zu meinen, dass diese alle in eine Richtung gehen, da sind große Widersprüche drinnen und damit auch enorme Zielkonflikte, die auf Organisationen zukommen. Und damit ist etwas Wichtiges beschrieben: das Komplexitätsniveau, das Organisationen brauchen werden, um antwortfähig zu bleiben, nimmt enorm zu. Damit meine ich, dass Organisationen sich rüsten müssen für sehr unterschiedliche externe Anforderungen, die zueinander in einem massiven Konfliktverhältnis stehen. D.h. die Zielkonflikte in Organisationen, die Paradoxien, die Widersprüche, nehmen weiter deutlich zu.

Die Kernherausforderung ist die steigende Komplexität in Organisationen und deren Bewältigung. Grundsätzlich gibt es keine Dimension der organisationalen Binnenverfasstheit, die ich da ausnehmen würde. Es gibt keine Nischen oder Territorien des Arbeitsalltags, die nicht betroffen wären.

Und, wenn man andersherum fragen würde, gibt es Bereiche, die besonders stark betroffen sind?

Ja, beispielsweise die Frage des Organisationsdesigns, gemeint ist die Logik der Binnendifferenzierung, d.h. all die Fragen, wie wir die Arbeit organisieren, um gegenüber den höchst volatilen externen Anforderungen antwortfähig zu bleiben. Das betrifft heute insbesondere Fragen der Flexibilität, der Innovation, der unternehmerischen Agilität und Verantwortungsübernahme auf allen Ebenen. Die innere Logik und Kohäsion des gewählten Organisationsdesigns ist zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor geworden. Damit im Zusammenhang stehen auch Fragen nach der Art und Weise, wie sich Führung dazu aufstellt. Es geht also um Führungsstrukturen und Führungspraktiken, bis hin zu den mentalen Modellen, die dafür geeignet sind. Dazu gehört natürlich auch alles, was mit Prozessen zu tun hat, vor allem jene, die übergreifender Natur sind, verteilte Aufgaben miteinander verknüpfen und Komplexität damit bearbeitbar machen. Hier spielen teamförmige Kooperationsformen eine ganz entscheidende Rolle.

In diesen Kontext gehört auch die Frage, wie Organisationen sich aufstellen, um Ungewöhnliches in ihrer Umwelt beobachtbar zu bekommen. Das hat sehr viel mit Führung zu tun. Es betrifft die ganze Sensorik (Achtsamkeit) für Überraschendes, Ungewöhnliches, Unerwartetes in den relevanten Umwelten und die Verarbeitung dieser Eindrücke. Auf diesem Wege verschaffen Organisationen sich die Möglichkeit, sich neben der Routinisierung ihrer Abläufe und damit auch der entsprechenden Effizienzsteigerung, immer wieder auch die Chance zu eröffnen, ihre eingeschwungenen Zustände angesichts der Impulse, die man von außen aufnimmt, zu hinterfragen. Das heißt, Routinen für die Veränderung und die kontinuierliche Selbsterneuerung aufzubauen. Und letztlich bringt das natürlich auch eine Menge an Herausforderungen für das Verhältnis der Anbindung der Funktionsträger, der Beschäftigten, was man heute Personalmanagement im weiteren Sinne des Wortes nennt, mit sich. Organisationen werden in ihrer Leistungsfähigkeit immer abhängiger davon, ihre guten Leute zu halten und für außergewöhnliche Talente attraktiv zu sein. Ich denke, dass letztlich alle relevanten Aufgabenfelder von Führung, die zentralen Führungsdimensionen, massiv von den geschilderten Entwicklungen betroffen sind.

Unser Alltag ist heute in allen Bereichen durch computerbasierte Kommunikation bestimmt. Dies gilt auch und insbesondere für die Interaktion zwischen Personen sowie für die Interaktion von Personen und Organisationen. Die digitale Kommunikation macht den Eindruck von Transparenz und Verfügbarkeit, sie vernetzt Personen und Organisationen in der ganzen Welt und Informationen stehen schneller und in Echtzeit zur Verfügung. Wie kann es Organisationen gelingen, in diesem Spiel erfolgreich mitzuspielen?

Du beschreibst in dem Statement, wie sich die Kommunikationsroutinen ändern, das heißt, organisationsintern ist heute neben den tradierten Formen der mündlichen und schriftlichen Kommunikation die computerbasierte Kommunikation hinzugetreten. Die Gewohnheiten, die mit den traditionellen Medien verknüpft waren, das Verhältnis von mündlichen Besprechungsroutinen auf der einen Seite und der Schriftlichkeit selektiver Verknüpfung entlang der Berichtswege auf der anderen Seite, haben in der Zwischenzeit ihre Problemlösungsfähigkeit weitestgehend eingebüßt. In der alten Kommunikationswelt gab es klare Regeln und Selektionsmuster: Wer es mit wem, zu welchen Anlässen, in welchen Medien zu tun hat. Diese Grundmuster der organisationsinternen Abstimmung werden zurzeit gewaltig durcheinander gewirbelt. Das hat mehrfache Konsequenzen. Man muss neu lernen, wie man organisationsintern die kommunikative Vernetzung steuert. Organisationen ab einer bestimmten Größenordnung müssen höchst selektiv vorgehen in all ihren Abstimmungsprozessen. Diese Selektionsmuster müssen heute neu erfunden werden. Die alte Logik der vordefinierten Berichtswege zählt nicht mehr. Wenn ich beispielsweise in meiner Mailkommunikation alle cc. setze, mache ich die Organisation verrückt und zwinge einen Großteil der Leute, die Nachricht einfach wegzuklicken und zu ignorieren. Oder wenn ich meine Konflikte per Mail austrage, dann darf ich mich nicht wundern, wenn das zu einer weiteren Eskalation führt. In der gesamten Nutzung der computerbasierten Kommunikationsmöglichkeiten kann man gut beobachten, dass die meisten Organisationen dafür noch keine neuen Routinen entwickelt haben. Sie sind mitten drin und deutliche Phänomene des Überfordert-Seins lassen sich beobachten.

Ich würde sagen, es ist eine der wesentlichen Führungsherausforderungen in den heutigen Organisationen, einen Umgang mit den kommunikativen Möglichkeiten zu finden, die mit der rasanten Verbreitung internetbasierter Medien zu den bislang gepflegten mündlichen bzw. schriftlichen Abstimmungsmöglichkeiten dazugekommen sind.

Das wäre quasi die Grundbedingung um erfolgreich mitzuspielen?

Ja, dafür zu sorgen, dass das Kommunikationsgeschehen tatsächlich auf die Steigerung der Leistungsfähigkeit der Organisation einzahlt. Und nicht im Gegenteil so viel Energie bindet, dass es zum Nachteil wird. Je vielfältiger und horizontaler (d. h. netzwerkförmiger) das organisationale Abstimmungsgeschehen wird, umso mehr wird gelingende Kommunikation zum entscheidenden Engpass.

All dies führt zu einer Zunahme an Komplexität, die wiederum von Organisationen verarbeitet werden muss. Sie wird spürbar in Form von Netzwerk-Beziehungen, Globalisierung, Dezentralisierung, Wissens-Abhängigkeit und in Form einer Gleichzeitigkeit von individueller und gesellschaftlicher Perspektive. Deswegen müssen Organisationen Orientierung vermitteln, Sinn schaffen und mehr als ein "Arbeitgeber" sein. Sie müssen Gesellschaft und Individuen mitdenken, denn durch sie werden sie legitimiert. Was macht ein Unternehmen bzw. eine Organisation heute als Arbeitgeber attraktiv?

Dass Organisationen inzwischen in verstärktem Maße untereinander im Wettbewerb um gute Leute stehen und deshalb mehr als früher auf ihre Attraktivität als Arbeitgeber achten, hat nur bedingt mit der Digitalisierung zu tun. Dahinter steckt der schon beschriebene, ganz allgemeine Komplexitätszuwachs in Organisationen, der für seine Bewältigung ein anderes Aufmerksamkeitsniveau auf der Personenebene, auf der Seite der Beschäftigten verlangt. Es braucht heute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in einer ganz neuen Weise bei der Erledigung ihrer Aufgaben mitdenken. Die sorgfältig beobachten, die sensibel sind für Entscheidungsbedarfe, die sich aus der jeweiligen Situation heraus entwickeln, sei es, dass die Impulse von außen kommen, vom Kunden oder sonst wo her oder, dass die Impulse durch entsprechende Abweichungen im Inneren produziert werden. D.h. es entsteht eine Abhängigkeit der Organisation von dieser, wenn man will, umfassenden Wachheit und Achtsamkeit der Beschäftigten im Hinblick auf all das, was die Organisation für ihre Leistungsfähigkeit braucht. Damit wird das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Organisation sehr viel breiter. Die Organisation ist darauf angewiesen, dass sich die Mitglieder mit ihrem Erfolgreichwerden voll umfänglich identifizieren, d.h. dass die anstehenden Probleme kompetent und zeitnah gelöst werden, ohne dass es dafür einer entsprechenden Anweisung bedarf. Dieser umfängliche Zugriff auf das eigenverantwortlich zum Tragen kommende Energiepotenzial der Beschäftigten gelingt eben nur, wenn man sich als Arbeitgeber entsprechend aufstellt. Das passiert eben in dem Ausmaß, als Menschen sich in ihrer Arbeit auch ernsthaft beteiligen können. Im weiteren Sinne des Wortes, dort auch ihren Sinn finden, sodass sie sich nachhaltig stimuliert fühlen, sich mit ihrem gesamten Begabungspotenzial entsprechend einzubringen.

Diese Entwicklungen bedingen eine doch recht weitgehende Neudefinition der Austauschbeziehungen von Personen und Organisationen. Die hier angedeuteten organisationalen Rahmenbedingungen treffen zur Zeit auf einen - wie ich meine nicht nur für die jüngere Generation geltenden - wachsenden Bedarf auf der Seite der Beschäftigten, ihre Existenz einzubetten in Formen sinnstiftender Arbeit. Viele wollen heute mit ihrem Leben einen Beitrag leisten zur Bearbeitung der brennenden Themen unserer Zeit. Diese stärker werdende Erwartungshaltung der Menschen an die Qualität ihrer Arbeit ist ein durchaus ernstzunehmender Faktor, wenn es um die Frage geht, was die Attraktivität von Arbeitgebern letztlich ausmacht, neben all den Punkten, wie der Work-Life-Balance, die zweifelsohne auch eine Rolle spielen.

Du sprichst damit das Thema "Sinn" an. Ich erinnere mich an andere Gespräche, in denen meine Gesprächspartner sagten, dass Sinn nun wirklich nicht das sei, was Organisationen heute auch noch bereitstellen könnten. Das sei quasi etwas, was man der Gesellschaft überlassen sollte oder dem Individuum ...

Das sehe ich tatsächlich anders. Nachdem Organisationen nach wie vor in unserer Gesellschaft die zentralen Akteure sind für die Bearbeitung aller wichtigen gesellschaftlichen Herausforderungen und außerdem ein erheblicher Teil unserer Mitmenschen ihr täglich Brot in der Arbeit mit Organisationen verdienen, ist diese Dimension für mich schon eine sehr relevante. Aber ich würde jetzt nicht sagen, dass das etwas ist, was man explizit als manageriale Aufgabe, vereinfacht, als "Sinnproduzent" für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschreiben kann. Es ist eine mitlaufende Dimension im Verhältnis von Person und Organisation, dass sich Organisationen sinnvollerweise fragen, welchen konkreten Beitrag leisten wir für die Bearbeitung der brennenden gesellschaftlichen Herausforderungen. Dass das auch für Beschäftigte hoch relevant ist, davon kann man heute ausgehen. Aber letztlich stehen alle Organisationen vor der strategischen Herausforderung, ihren Existenzgrund zu bestimmen und darüber Auskunft zu geben, wozu es sie letztlich gibt. Organisationen sind nicht in erster Linie deshalb Sinnlieferanten, weil sie schlicht Arbeitsplätze anbieten, sondern weil sie glaubwürdig begründen können, wodurch sie einen Beitrag für unsere gesellschaftliche Entwicklung leisten. Je intensiver diese Auseinandersetzung - was ist unser strategischer Fokus? Warum gibt's uns eigentlich? - organisationsintern geführt wird, umso antwortfähiger sind sie dann auch in der Auseinandersetzung mit ihren Beschäftigten in dieser Frage.

Ich bin deshalb auf die Frage gekommen, weil es in der Literatur zur Gen Y bisweilen so aussieht, als ginge es nur um die gut gebildeten, jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit großem Potenzial und hohen Erwartungen an die Unternehmen herantreten. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt, die nicht diese Bildung genossen haben und nicht mit diesen Kapazitäten ins Unternehmen kommen. Und dass dann der Aushandlungsprozess zwischen Mitarbeiterinnen Mitarbeiter und Organisation zwangsläufig anders aussehen wird.

Dem würde ich so zustimmen. Wir haben sicherlich ganz unterschiedliche Beschäftigtengruppen, bei denen diese existenziellen Fragen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Aber da sind wir jetzt wieder beim Digitalisierungsprozess, wo wir davon ausgehen können, dass mehr und mehr Aufgabenfelder, die bislang von geringer Qualifizierten erbracht werden, automatisiert werden und zwar deshalb, weil es der Informationsgehalt solcher Arbeitsschritte heute erlaubt, diese mit Hilfe komplexer digitaler Lösungen zu automatisieren und maschinell zu steuern. Auf diese Weise entstehen ganz neue Beschäftigungsverhältnisse, neue Relationen von Mensch und Maschine, die ein hohes Anspruchsniveau haben und entsprechende Qualifikationen erfordern. Wir laufen da schon, zumindest in den hoch entwickelten Weltregionen, auf Arbeitsverhältnisse hinaus, die in der Tendenz dieses gehobene Anspruchsniveau an die Beschäftigten realisieren werden. Wie wir gesellschaftlich mit jenen umgehen, die keine Arbeit mehr finden, ist dann ein ganz anderes Thema.

Welche Rolle spielt das Web 3.0 konkret im Führungsalltag?

Diese Entwicklungen sind ja nicht losgelöst vom Geschäft zu denken. Ich möchte die Einsicht mitgeben, dass man einer fatalen Verkürzung unterliegt, wenn man die Digitalisierung nur auf die Kommunikation, im Sinne der internen Austauschprozesse und Kooperationsprozesse bezieht. Die eigentlichen Veränderungsimpulse kommen aus dem Business, aus den neuen Businessmodellen, die durch die Digitalisierung angeschoben werden. Und die verlangen dann auch andere Formen der Kooperation und der webbasierten Kommunikation. Aber das ist eine Folgewirkung jener Transformationsprozesse, denen in vielen Branchen das Geschäft selbst jetzt ausgesetzt ist.

Zum Beispiel im Handel. Wenn sich der Point of Sale ins Netz verlagert, die Menschen in erster Linie webbasiert einkaufen gehen, dann transformiert sich eine ganze Branche. Dasselbe gilt für die Medienbranche und die Verlagerung des Nachrichten- und Unterhaltungsgeschehens wie auch der Werbeaktivitäten ins Netz hinein. Dadurch geraten die Printmedien, aber auch Funk und Fernsehen, in ihren geschäftlichen Möglichkeiten enorm unter Druck. Und so kann man das Branche für Branche diskutieren. Mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Reichweite. Aber überall sieht man, dass das, was an Information aus den Produkten und Dienstleistungen heraus gewinnbar und auch digitalisierbar ist, die Geschäftsgrundlagen grundlegend transformiert und ganz neue Businesschancen entstehen lässt. Ich beziehe mich hier weniger auf Start-ups, denn diese setzen sich da rein und sind entweder erfolgreich, weil sie eines der Themen gut aufgreifen und skalieren können oder sie verschwinden wieder. Spannender ist die Frage, wie die etablierten Unternehmen damit umgehen. Viele haben ja die Vorstellung, sie könnten das in das bestehende Geschäft und in die Prozesse relativ rasch und easy going durch etwas mehr Agilität integrieren. Und das ist eine der ganz großen Illusionen, die man heute durch die Unternehmen treibt.

So mancher Vorstand pilgert ins Silicon Valley und sagt nach seiner Rückkehr: Jetzt machen wir das auch! Wir werden jetzt agiler, schaffen die Krawatten ab und sorgen für andere Incentive Systeme. Wir kreieren angenehmere Arbeitsbedingungen und dann werden wir eine Geschwindigkeit entwickeln und eine Kreativität und Innovationskraft, wie das die Start-ups in unserer Umwelt haben. D.h. da ist die Vorstellung, man schaut sich drei erfolgreiche Start-ups an - wie sie arbeiten und wie agil sie sind - und dann kriegt man durch entsprechende Veränderungs- und Changeprojekte das Erfolgsrezept in die eigene Organisation implantiert. Also davor kann man nur warnen! Mit solchen reichlich vordergründigen Maßnahmen wird man für das digitale Zeitalter nicht antwortfähig.

Solche agilitätsorientierten Changeprojekte werden aktuell vielfach als Beratungsdienstleistung verkauft.

Genauso ist es. Und dahinter steckt ein absolutes Unverständnis, wie dieser Digitalisierungsprozess heute auf die etablierten Organisationen einwirken kann und wie man sich als Management in die Lage versetzt, antwortfähig zu werden. Das geht sicher nicht, indem man in den etablierten Prozessen die Start-up Welt zu kopieren versucht. Das ist der ganz sichere Weg zum Scheitern.

Wie kann denn dann eine Antwort aussehen? Wie sollte ein intelligenter Change von innen heraus gestaltet werden, so dass er erfolgsversprechend wäre?

Man kann bestimmte Entwicklungen ganz gut am Beispiel des Handels beobachten. Etablierte Handelsunternehmen, wie etwa die Otto Group haben - ausgelagert aus den üblichen Prozessen des Unternehmens - Start-ups auf Themen gesetzt, die für das Unternehmen innovationsmäßig von Relevanz sind. Ob die das dann auch erfolgreich umsetzen, im Vergleich zu Amazon oder Zalando, muss man auch erst sehen -, aber sie probieren es. Also da gibt es eine eigene größere Organisationseinheit mit inzwischen etwas über 250 Mitarbeitern, die unterschiedliche Themen bearbeiten können, ohne dass sie in die üblichen Routinen und in die Führungsprinzipien, unter die räumlichen Standards, bis hin zu Fragen wie man sich anzieht und wie man entlohnt wird, eingebunden sind. Dort werden ganz eigene Standards neu erfunden. Mit Rückendeckung des Konzerns. Diese Start-up-Teams gehen auf die Suche nach Innovationsherausforderungen des Unternehmens und versuchen diese mit ihren eigenen Herangehensweisen bearbeitbar zu machen. Inzwischen sind hier eine ganze Reihe von kreativen Lösungen entwickelt worden. Collins z.B. ist eine Plattform für kreative Internetanbieter, die auf das Sortiment des Konzerns zurückgreifen kann. Natürlich werden solche Innovationen, wenn sie erfolgreich sind, dem Unternehmen im klassischen Geschäft Kunden wegnehmen. Eine gewisse interne Kannibalisierung ist hier gar nicht zu vermeiden. Aber wenn sie das nicht selber machen, erledigt es der Wettbewerb. Die Verlagerung des Kaufprozesses ins Netz wird man nicht mehr rückgängig machen können. Im Gegenteil. Sie beschleunigt sich. Das transformiert die gewohnten Geschäftspraktiken eines Versandhändlers, ebenso wie das bei den klassischen stationären Händlern der Fall ist. Auch hier muss man verstehen, dass das bloße Anbauen eines Webshops das Thema nicht löst. Man muss das gesamte Geschäft neu denken in der Kombination der unterschiedlichen Vertriebskanäle und herausfinden wo die Kanäle wechselseitig sich stimulieren können. Dieses "das eigene Geschäft vom Kunden und seinen veränderten Nutzenerwartungen her konsequent neu Denken" fällt den meisten etablierten Unternehmen (nicht nur im Handel) extrem schwer.

Was heißt es, eine etablierte Organisation digitalisierungsbereit zu machen? Dies bedeutet, die erforderlichen Innovationen ein stückweit in eigene, eigens dafür gebaute Organisationseinheiten auszulagern. Diese müssen sich entfernt und weitgehend unbeeinflusst vom normalen Geschäft entfalten können. Wenn dieser geschützte Raum nicht systematisch ermöglicht wird, dann entsteht nichts Neues.

Die Gleichzeitigkeit vom bislang Gewohnten und dessen optimierter Abwicklung sowie das experimentelle Ermöglichen von Geschäftsmodellen, die das Bestehende ablösen können - beides miteinander managen können, ist das Kunststück, das vielen Führungsverantwortlichen zur Zeit abverlangt wird. Das setzt auf verschiedenen Führungsebenen ein gewisses Grundverständnis des Business-Changes voraus. Und genau damit plagen sich eben viele, weil bislang die Gleichzeitigkeit des Verstehens der technischen Entwicklung in der Digitalisierung und die damit verbundenen Implikationen auf der Ebene der Geschäftsmodelle wenig ausgeprägt ist. Dieses Basis-Know-how ist in den etablierten Führungsetagen in der Regel nicht vorhanden. Wir benötigen auf den relevanten Entscheidungsebenen sehr viel mehr Leute, die die technische Seite des Digitalisierungsgeschehens und die damit verbundenen neuen Geschäftschancen in ihrer wechselseitigen Verbindung kreativ denken können.

Das wäre so eine Idee, wie ein Vorstand für Digitalisierung?

Zum Beispiel.

Oder noch besser, gleich mehrere Vorstände, die sich ...

Die in ihren Aufgabenfeldern das dazu erforderliche Know-how mitbringen und damit auch die sicherlich schwierige Übersetzungsarbeit zwischen der alten und der neuen Welt leisten können.

Lieber Rudi, vielen Dank für das Gespräch!

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