18. Oktober 22
Herzstück von Führungsentwicklung
Durch die Pandemie ist in vielen Unternehmen das virtuelle Arbeiten alltäglich geworden. Damit wurden neben Regelkommunikation und Projektarbeit auch Führungskräfteentwicklungsprogramme virtualisiert. Zunächst mit erstaunlich positiver Resonanz und der Verlockung von gesteigerter Effizienz und Effektivität, sowie der Ersparnis von Reise- und Rüstkosten für Präsenzformate.
Recht bald bekam der Glanz der ersten Stunden jedoch Risse und schnell setzte eine fast reumütige Rückkehr zu Formaten in Präsenz ein. Aus intensiver Beobachtung in vielen Programmen einerseits und der Verschneidung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits lässt sich in 7 Punkten zusammenfassend verdeutlichen, dass Präsenzformate gegenüber dem virtuellen Arbeiten Qualitäten bieten, die es es wert sind, wieder- oder überhaupt neu entdeckt zu werden.
Die informelle Dimension der Begegnung ermöglicht Beziehungssicherheit
Als erstes Merkmal kann beobachtet werden, dass Menschen in einer Präsenzgruppe ein anderes Maß an Sicherheit entwickeln, sich an der Kommunikation zu beteiligen. Bereits im Vorfeld, während der Wartezeit bis zum Beginn der formellen Zusammenkunft, setzen wir erste Beziehungsanker zu Menschen, die uns sympathisch oder gleichgesinnt erscheinen. Diese beginnende Beziehungssicherheit zwischen einzelnen Personen wird darin erlebbar, dass aufeinander Bezug genommen wird, man sich wechselseitig auch nonverbal zu Äußerungen ermutigt oder einander in Argumenten bestärkt.
Wenn sich die Zusammenarbeit gut entwickelt, kann beobachtet werden, wie sich das Geflecht der Beziehungsaufnahmen und -verstärkungen in allen informellen Situationen, insbesondere in den Pausen, ständig verbessert. Im günstigen Fall gewinnt die Gruppe zunehmend an Sicherheit und Vertrauen, auch heikle Themen direkt anzusprechen und konfliktäre Interessen gemeinsam auszugleichen. Ein hinreichendes Maß an Beziehungssicherheit ist schließlich auch die Voraussetzung für die Teamqualität der "psychologischen Sicherheit", welche Amy Edmondson so markant als Erfolgsfaktor für Teamarbeit herausgearbeitet hat (A. Edmondson: Die angstfreie Organisation, 2020).
Angereicherte Kommunikation ermöglicht vertieftes Verstehen
Wenn in virtuellen Formaten das Risiko besteht, dass viele der Beteiligten mit geteilter Aufmerksamkeit anwesend sind, so führt die physische Präsenz in Gruppen sehr schnell zu einer hohen Aufmerksamkeit füreinander. Diese Aufmerksamkeit drückt sich in unterschiedlichen Ebenen und Themen der Kommunikation aus. Private Erlebnisse werden ebenso ausgetauscht wie Meinungen zu aktuellen gesellschaftlichen Themen oder einfach nur Feststellungen zum Wetter.
Der so entstehende, vieldeutig aufgeladene Kontext lässt Stellungnahmen von einzelnen Personen zu den formell diskutierten Themen in einem vielschichtigeren Zusammenhang erscheinen. Im günstigen Fall tut sich eine andere Qualität von "Verstehen" auf, worum es dem anderen geht und welche persönlich gefärbten Interessen im sachlichen Diskurs mit prozessiert werden. Vertieftes Verstehen von unterschiedlichen Perspektiven auf Themen oder Interessen an Lösungen wird so möglich und hinterlässt ein anderes Erleben von Sinn und bedeutsamer Kommunikation.
Auch niederschwellige Impulse fließen in den Austausch und die Diskussion ein
Ein effizienzsteigerndes Merkmal virtueller Kommunikation ist, dass eine deutlich höhere Disziplin herrscht, am Hauptstrang des zur Debatte stehenden Themas dran zu bleiben. Die Schwelle zur Beteiligung ist allerdings deutlich höher als in der Präsenzkommunikation, alleine schon aufgrund der Notwendigkeit, sich durch elektronisches oder physisches "Handheben" oder eine unterbrechende stimmliche Äußerung quasi "offiziell" zu Wort melden zu müssen. Was ebenfalls als Vorteil der virtuellen Kommunikation gesehen werden kann, nämlich schneller zu einem Ergebnis zu gelangen, kann sich bei jenen Themenstellungen nachteilig auswirken, die zunächst ein grundlegendes Erkunden erfordern oder auch eine breitere Beteiligung der Anwesenden wünschenswert erscheinen lassen.
Durch die wechselseitige Wahrnehmung im gemeinsam geteilten physischen Raum können unterschiedlichste Signale von anderen Personen wahrgenommen werden und zu deren Einbeziehung in den jeweiligen Diskurs führen. Diverse Forschungen zeigen, dass die Lösung von gemeinsam diskutierten Problemstellungen oft durch Personen angestoßen oder beigebracht werden, die zunächst nicht im Vordergrund stehen oder erst durch Unterstützung anderer in die Aufmerksamkeit gerückt wurden.
Die physische soziale Situation ermöglicht das Gefühl, als Person anerkannt zu sein
Die Retention-Forschung zeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns in einem Arbeitskontext neben unserer Expertise als ganze Person wahrgenommen fühlen. Wenn dies insbesondere durch die Aufmerksamkeit der Führung gelingt, steigen die Bindungsbereitschaft, die Identifikation und die Motivation zum gemeinsamen Anliegen beizutragen signifikant. Für uns Menschen spielen die Leiblichkeit und die Sinnbezogenheit und damit die ganzheitliche Wahrnehmung eine fundamentale Rolle. Der Mangel, sich selbst als ganze Person anerkannt zu erleben, führt zu Sinnverlust und Entkoppelung von einem gemeinsamen Anliegen. Dies stellt wohl einen der bedeutendsten Unterschiede zwischen virtueller und physischer Zusammenarbeit dar und erklärt, warum die wieder gewonnenen Möglichkeiten der Begegnung zum Teil so euphorisch erlebt werden.
Kommunikationsüberschuss führt zu Kreativität und Lernen
Ein hoher Stellenwert in Leadership-Themen und im Leadership Development kommt der Kreativität und dem Lernen zu. Die Lernpsychologie belegt, dass beide Dimensionen nur bis zu einem gewissen Grad steuerbar sind und zumeist von den vielfältigen zufälligen Begebenheiten und Kommunikationssituationen rund um die formellen Formate abhängig sind. Erst wenn Themen und Erkenntnisse in Seitengesprächen aufgegriffen, kontrovers oder affirmativ diskutiert werden, auf die Anwendbarkeit und Übersetzbarkeit in die Praxis geprüft und anhand von Beispielen überdacht werden, kommt ein Lern- und Entwicklungsprozess in Gang, der auch die Chance auf Umsetzung in der täglichen Arbeit hat. Der nur in der Präsenz evozierte Kommunikationsüberschuss kann damit als im Virtuellen schwer ersetzbare Voraussetzung für nachhaltig wirksame Führungsentwicklung betrachtet werden.
Physisch-räumliches Erleben verschafft emotionale Erinnerungsanker
Wir alle wissen, wie eng einprägsame Erinnerungen an bestimmte Orte und räumliche Situationen gekoppelt sind. In der Alltagssprache in Unternehmen ist z.B. die Rede von der "Berlin-Konferenz“ und jeder weiß sofort, von welcher Diskussionsmaterie in welcher Situation die Rede ist. Bei Leadership Development-Modulen kann man häufig ähnliches beobachten. Ein späterer Bezug zwischen Teilnehmern lässt zunächst die örtlichen Begebenheiten lebendig werden mit konkreten Erlebnissen die man dort "an der Bar“ hatte und dann (im günstigen Fall) die Erinnerungen an Erlerntes oder Erkanntes. Eine vergleichbare Qualität ist nachvollziehbarer Weise in virtuellen Veranstaltungen nicht gegeben.
Sinnlich erlebte Mitgliedschaft ermöglicht Identifikation und Inspiration
Last not least gibt es einen wesentlichen Faktor, der von Teilnehmenden in Präsenzveranstaltungen häufig als expliziter Mehrwert hervorgehoben wird: Die Entwicklung von Gespür für die Firma und das Erleben, Teil eines sozialen Systems zu sein, mit dem man sich aufgrund des miteinander Erlebten gerne verbindet und über das man vor allem im informellen Austausch viel gelernt hat. "Mitgliedschaft" als rein gedankliches Konstrukt hat einen anderen Wert als mit der ganzen Person erlebte Verbundenheit einer Mitgliedschaft in derselben Firma. Von diesem Aspekt profitiert nicht nur die Firma auf mittlere und längere Sicht, sondern jeder einzelne zieht aus dieser Erfahrung Inspiration und Motivation für den engagierten Einsatz im eigenen Verantwortungsbereich.
Der Trend in der Planung von Leadership Development-Programmen baut derzeit stark auf gemischte Formate, in denen Präsenzmodule mit kürzeren virtuellen Treffen zu bestimmten Themenschwerpunkten zwischendurch abwechseln. Als Herzstück der Programme, die zumeist Organisationsentwicklungs- oder Changevorhaben unterstützen sollen und auch auf die Entwicklung von Führungskultur abzielen, wird aus nachvollziehbaren Gründen zumeist auf bewusst erlebnisreich gestaltete Präsenzformate gesetzt. Dabei wird besonderes Augenmerk darauf gelegt, die beschriebenen Vorteile auch bewusst und gezielt in der Didaktik und Methodik zu berücksichtigen.
Weiterführende Literaturhinweise:
Edmondson, A. C. (2020): Die angstfreie Organisation, München, Verlag Franz Vahlen.
Kunz, A. M. (2020): (Online) Präsenz als Schlüsselkompetenz; In: Stanisavljevic, M. und Tremp, P. (Hrsg.): (Digitale) Präsenz. Ein Rundblick auf das soziale Phänomen Lehre, Luzern: Pädagogische Hochschule, Luzern, S. 61-63.
Tratschin, L. (2020): Kann digitale Präsenz Kommunikation unter Anwesenden ersetzen? Eine interaktionssoziologische Einordnung einer kollektiven Erfahrung; In: Stanisavljevic M. und Tremp, P. (Hrsg.): (Digitale) Präsenz. Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre, Luzern: Pädagogische Hochschule Luzern, S. 117-120.