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17. März 25

Das muss sitzen!: Doing Loss und Doing Future in der Transformation

Mich faszinieren die Thesen und Beobachtungen, mit denen Andreas Reckwitz in seinem aktuellen Buch "Verlust" (Suhrkamp 2024) die Krise der westlichen Postmoderne und unsere gesellschaftliche Herausforderung beschreibt, unsichere Fortschrittserwartungen und Verlusterwartungen konstruktiv mit Zuversicht zu verbinden.

Als Change-Professional möchte ich versuchen, ein paar dieser Gedanken auf aktuelle Erfahrungen in Restrukturierungs- oder Transformationsprojekten zu spiegeln und mit diesem Beitrag auch explizit zur Diskussion anregen.

Wenn die CEO-Rolle in einer Transformation verlangt "Das muss jetzt sitzen …"

… wird möglicherweise an eine zielgerichtete Kommunikation adressiert, die den verantwortlichen Führungskräften ein sprechendes Narrativ für den Case for Action und vor allem für klare Zukunftsaussichten verspricht, die das Wachstum und damit den Bestand des jeweiligen Unternehmens sichern soll.

Was aber, wenn die Zukunft als positives Ordnungsinstrument für eine solche Veränderung ausfällt, z.B. weil die angekündigten Wachstumsperspektiven fraglich erscheinen oder in anderen Teilen der Welt stattfinden werden. Dann steigt bei Beschäftigten und auch in den Führungsebenen die Angst, sich dieser Zukunft ausgeliefert zu fühlen. Die CEO-Erwartung "Das muss sitzen" meint dann, dieses Gefühl gar nicht erst aufkommen zu lassen, sondern mit klarer überzeugender Perspektive zu "überspringen".

Hier zeigt sich meiner Meinung nach eine Verlustparadoxie (n. Reckwitz): Die Beschäftigung mit möglichen Verlusterfahrungen (z.B. Verlust von Rolle, Beziehungsnetzwerk, Karriereperspektiven, bisherigem Arbeitsplatz, …) wird einerseits gehemmt und andererseits gerade dadurch gesteigert, dass sie nur auf den informellen Bühnen und nicht als Teil der transparenten Kommunikation stattfinden kann oder darf. Es droht eine prekäre Balance zwischen Unsichtbarmachung in der offiziellen Change-Kommunikation und einer intensiven Thematisierung potenzieller Verluste durch die Betroffenen in ihrem Miteinander auf den "Hinterbühnen" der Organisation. So entsteht ein "Doing Loss" im Sinne einer "sozialen Praktik des Verlusts" (Reckwitz) und Handhabung des Negativen. Verluste werden durch Handeln (z.B. durch selbstreferentielle Schleifen der "Verlierer" untereinander oder durch das "Überspringen" möglicher unverarbeiteter Gefühle und Befürchtungen) erst zu Verlusten gemacht. Auch weil die Verantwortlichen häufig wenig Gespür und Ideen für ein konstruktives Management von Widersprüchen und Paradoxien hinsichtlich möglicher Verlusterwartungen haben.

"Doing loss" in Restrukturierungsprojekten

Befürchtete Verluste erscheinen als irreversibel und unverfügbar und drängen damit Individuen, Gruppen in Transformationsprozessen in eine passive Rolle, dieses dann häufig in einer Kopplung mit einem massiven Selbstwertverlust, der nach Kompensation drängt. Diese Art von Zukunftsverlusten bzw. Verluste einer positiven Zukunftserwartung sind immer auch subjektive Phänomene und lassen sich nicht durch eine organisationale Argumentation ("Warum müssen wir als Unternehmen diesen Weg gehen?") allein dämpfen oder bearbeiten. Hier geht es um ein organisationales Zielbild, das sehr wohl Gewinner und auch Verlierer produziert. Die dabei entstehen Gefühlsüberlagerungen zwischen Abwehr, Zuversicht, Ärger und Resignation und auch Zuschreibungen von Tätern und Opfern müssen aber von Führungskräften während der Implementierung ebenfalls gemanagt werden.

Gerade lange Übergangsphasen im Rahmen von Transformationen bergen dabei immer wieder typische Risiken einer Steigerung des Verlusterlebens (siehe auch: von der Reith, 2024):

  • Die verantwortlichen Entscheidungsrollen fokussieren auf einzelne besonders herausfordernde Kommunikationsereignisse und unterschätzen nach deren erfolgreicher Bewältigung, die sich parallel aufschaukelnden informellen Meinungswellen innerhalb der betroffenen Führungsebenen und in der Belegschaft, ggf. wird dann zu spät oder nur noch reaktiv kommuniziert.
  • Situationspotenziale für ein kreatives Einbringen in den Prozess und eine positive Zukunftsmobilisierung werden nicht oder zu spät genutzt, weil auf übergreifende Resonanzgruppen verzichtet wird, da ja „zu wenig im Prozess passiert“.
  • Talente und Potenzialträger*innen werden entmutigt und verlassen die Organisation auf dem Weg oder es werden ihnen – wenn auch meist aus ehrlichem Wohlwollen heraus - Versprechungen gemacht (z.B. neue Rollen und Qualifizierungen), die später nicht mehr eingehalten werden können.

Das zentrale Problem dabei ist ein asynchrones Zeiterleben der Schlüsselrollen und der bisher weniger informierten oder involvierten betroffenen Beteiligten.

Das Transformations-Narrativ der Organisation trifft auf einen eher Vergangenheits-negativen oder gar Gegenwarts-fatalistischen Blick (Zimbardo & Boyd): "Auch die letzte sogenannte Wachstums-Initiative war im Grunde nur ein verkapptes Einsparprogramm. Wir können das ohnehin nicht beeinflussen, das ist doch alles schon längst entschieden. Am Ende sind wir wieder die Dummen".

"Doing Future" in Transformationen sollte sowohl auf die Steigerung der persönlichen als auch der organisationalen Resilienz setzen.

Aber wie entkommt man in einer Transformation sowohl einer Überpräsenz und Psychologisierung der erlebten Verluste als auch einer faden Fokussierung auf eine wenig greifbare Zukunft, die die Beteiligten noch nicht fühlen und bejahen können?

In Anlehnung an Reckwitz-Szenario einer "Reparatur der Moderne" sollten sich meiner Ansicht nach Organisationen in Transformationsprozessen dem Fortschritts-Verlust- Widerspruch und stellen und damit ihre eigene Vulnerabilität offensiv bearbeiten. Und gerade dadurch eine aktive Gestaltung der eigenen Zukunftsfähigkeit im Sinne eines "Doing Future" miteinander ermöglichen.

Dieses würde bedeuten, den Fortschritt nicht ausschließlich primär in die Zukunft zu projizieren, sondern bisherige Entwicklungen als Erbe anzuerkennen, welches es in Gegenwart und Zukunft zu schützen gilt. Der Schutz oder zumindest die Würdigung des erreichten Fortschritts gegen Verluste wäre eine entscheidende Aufgabe und Resilienz würde zum zentralen Wert. Dieses bedeutet eine aktive Transformation in Richtung von Verhältnissen, die mit dem Negativen rechnen und dagegen Vorkehrungen treffen.

Wie könnte das praktisch aussehen?

Investition in ein Resilienz-Empowerment der betroffenen FK und MA
In einigen Transformationsprojekten in der Luftfahrtindustrie / Großgerätemontage konnten wir zusammen mit dem Kunden erfolgreich das Format "Change – und ich?!" implementieren. Eine 1-tägige Standortbestimmung und Maßnahmenplanung zur Standortbestimmung und Weiterentwicklung für die vom Arbeitsplatzwechsel betroffenen Führungskräfte und Mitarbeitenden. Einen nicht unerheblichen Beitrag für das Gelingen dieser Formate leistete dabei das Networking untereinander.

Ernsthafte Würdigung des bisher Erreichten in der übergreifenden Change-Kommunikation zu einer Transformation
Immer wieder wird dieser Anteil in der Change-Kommunikation vernachlässigt, das Neue steht im Vordergrund, das Bisherige wird als gestrig abgewertet bzgl. gar nicht erwähnt. Hier geht es nicht darum, eine entsprechende Textpassage auf dem Sprechzettel zu platzieren, sondern z.B. im Rahmen Veranstaltungen zur Strategieimplementierung auch ernsthaft auf diesen Teil einzugehen.

Explizite Abschlussformate
Eine alte Erkenntnis, die aber in unseren neuen Transformationsdynamik nichts an Aktualität verloren hat. Ein kleines Abschlussevent für die Abteilung, eine explizite Verabschiedung von einer bisherigen Rolle (wie wir es z.B. mit Industriemeistern in Produktionsbetrieben durchgeführt haben) trägt entscheidend mit dazu bei, sich mit mehr Zuversicht und Risikobereitschaft auf den Weg zu machen.

Sensitivierung des Führungssystems für diese Integration
Die Führungskräfte der verschiedenen Ebenen sind in der Regel nicht darauf vorbereitet, in ihrer Regelkommunikation eine Zuversicht für den Transformationsweg und den dafür notwendigen Umbau mit einem konstruktiven Verlustdiskurs zu koppeln. Das braucht eine Investition in Dialogformate und die dafür notwenigen Skills. Hier wären vor allem gruppendynamische Kompetenzen zu nennen: Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, zur Mustererkennung in Interaktionen und zum Umgang mit begrenzten Handlungsräumen unterstützt Führung, um den Rahmen für Dialogveranstaltungen halten zu können.

Erst die Verarbeitung von Verlusten durch die Integration in die Gegenwart ermöglichen eine erwachsene und selbst-reflexive Verlustintegration, auf der persönlichen und auf der organisationalen Ebene. Genau das muss sitzen, wenn das Ziel eine anhaltende Anpassungsfähigkeit des Unternehmens sein soll.

Literatur:

  • Reckwitz, A. (2024): Verlust – Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp-Verlag.
  • Zimbardo, P.; Boyd, J. (2009): Die neue Psychologie der Zeit. Spektrum Verlag.
  • von der Reith, Frank (2024). Blogbeitrag osb-i Publikationen

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