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13. Juli 21

Varianten der Kulturentwicklung in Organisationen

This is culture

"Good morning boys, how is the water?" fragt der alte erfahrene Goldfisch die beiden jungen Artgenossen, als sich diese im Aquarium begegnen. Die beiden antworten zunächst nicht, aber nach einiger Zeit dreht sich der eine junge Goldfisch zum anderen um und fragt "What the hell is water?” (nach D.F. Wallace, 2012)

Was hat diese Sequenz mit Kulturentwicklung zu tun? Kultur umgibt uns und ohne Referenz von außen nimmt man sie kaum wahr. Die Fische schwimmen im Wasser und wir schwimmen (auch) in unserer Organisationskultur, aber häufig reflektieren wir das nicht, bevor wir nicht eine Irritation erleben oder fundamental andere Erfahrung machen konnten.

Aber warum kommen wir als Organisationsentwickler*innen vor diesem Hintergrund überhaupt auf die Idee, Unternehmenskulturen mit Programmen verändern zu wollen, wenn sich bereits die Kulturbeobachtung als schwierig erweist und wir eine Veränderung in anderen Kulturbereichen, z.B. für regionale Bräuche und Lebensarten, wegen unzureichender Erfolgsaussichten wohl kaum jemals versuchen würden?

Weil Kultur als unentscheidbare Entscheidungsprämisse (Luhmann) eben alle Entscheidungen beeinflusst, um die es in Veränderungen in der Regel geht: Neuausrichtung des Geschäftsmodells, Mindset und Haltung, neue Pfade des Entscheidens und Verhaltens, neue Organisiertheit, Umsetzung neuer Rollen und Arbeitsmodelle etc.

Worauf kommt es also an, wenn geplante Kulturentwicklung in Organisationen zwar nicht angeordnet aber sehr wohl stimuliert werden soll?

Entscheidend ist die ganzheitliche Organisationsgestaltung

Um die Kultur einer Organisation begreifen zu können, müssen drei Aspekte zunächst systematisch auseinandergehalten und betrachtet werden.

  1. Die Schauseite als explizite "Fassade" der Organisation
  2. Die formale Seite der Zielsysteme, Strukturen, Rollen und Prozesse
  3. Die Organisationskultur als die informale Seite einer Organisation mit ihren intransparenten Kommunikations- und Entscheidungspfaden

Das Problem: In der gängigen Praxis werden Veränderungen von Organisationen oft fragmentiert gestaltet: PR-Berater*innen kümmern sich um die Schauseite der Außendarstellung, Fachberatungen sind zuständig für die formalen Programme (Prozesse und Abläufe) und die Kommunikationswege und Systemische Prozessberater*innen sollen dann für die passende Kultur der Organisation sorgen (Kühl, Ibold, Matthiesen, 2018).

Alle drei Perspektiven sollten auf jeden Fall parallel bearbeitet und die jeweiligen Wechselwirkungen im Blick behalten werden. Projekte, die sich auf Kultur allein konzentrieren, werden weitgehend wirkungslos bleiben. Und: Geplante Kulturprogramme sollten die Erlaubnis haben, auf formale Strukturen einzuwirken, um die Organisationskultur wirksam und nachhaltig zu beeinflussen.
Ein eigenes Learning: Meine Kolleg*innen und ich haben in den großen Initiativen zur (teil-)autonomen Gruppenarbeit der Nullerjahre unzählige Workshops und Qualifizierungen durchgeführt, um die neue Kultur der Selbstorganisation zu verankern. Rückblickend betrachtet hat die vergleichsweise unscheinbar anmutende Strukturveränderung der Einrichtung einer gemeinsamen Gruppengeschäftsstelle (alle Arbeitsgänge wurden auf ein gemeinsames Konto verrechnet) mindestens ebenso zum Kultur- und Musterwechsel beigetragen. Man brauchte eben beides!

Wie lassen sich nun unterschiedliche Varianten von Kulturprozessen grob unterscheiden? Welche Ziele sollen damit erreicht werden und wie können solche Prozesse umrissen werden? Hier eine kursorische Unterscheidung von drei Varianten, die sich auch in den Anfragen unserer Kunden widerspiegelt.

Varianten eines Kulturprozesses

Variante 1: Übergreifende Kulturanalyse und -entwicklung

Ziele

  • Erhebung der Ist-Situation des Gesamtunternehmens durch eine Befragung der Belegschaft
  • Beschreibung des Status-Quo der Unternehmenskultur (Nullmessung)
  • Identifizieren, was die Belegschaft heute bewegt
  • Analytische Basis und Verständnis schaffen, um nachfolgend die Unternehmenskultur weiterzuentwickeln
  • Aufbereitung der Ergebnisse für eine nachfolgende Kulturentwicklung

Vorgehen

  • Start mit Auftraggeber: Klärung von Zielen, Scope und Vorgehensvarianten
  • Analyse von firmeninternen und externen Dokumenten; Beobachtungen (im Rahmen von Gesprächen und Treffen, Rundgängen etc.)
  • Durchführung und Auswertung einer qualitativen Befragung (ca. 50-80 teilstrukturierte Interviews) und Durchführung und Auswertung einer quantitativen Befragung mit einem geeigneten Modell (z.B. der Kulturanalyse nach Denison, 2001)
  • Weiterentwicklung der Kultur mit angepassten Umsetzungsmaßnahmen
  • Möglicher Start einer Cultural Journey, mit Besuchen anderer Unternehmen und dem Aufbau übergreifender Kulturdialoge und Implementierungszirkel.

Variante 2: Spezifisches Kultur-Assessment mit Unit-bezogenen Maßnahmen

Ziele

  • Das Management eines Unternehmens will sich einen Überblick über die unternehmenskulturellen Stärken und Entwicklungsbedarfe in einzelnen Bereichen verschaffen
  • Die Spezifika der bestehenden Unternehmenskultur sind bereits weitgehend bekannt
  • Eine Bewertung, was konkret eine Stärke oder Schwäche für das Unternehmen oder eine Business-Unit darstellt, kann auf Basis der Unternehmensstrategie, der Bereichsstrategie und zentraler Transformationsziele erfolgen (z.B. "New Ways of Working" zu implementieren

Vorgehen

  • Halbstrukturierte qualitative Interviews mit den oberen zwei bis drei Führungsebenen sowie mit zentralen Führungskräften verschiedener Hierarchieebenen und Bereiche (Schlüsselkräfte)
  • Zielbild-Workshops mit Führungskräften der nachfolgenden Ebenen und mit zentralen Meinungsbildnern, vorzugsweise mit einem verständlichen und integrativen Modell (z.B. nach Groysberg, 2018)
  • Vergleich von Ist- und Ziel-Kultur, der die Stärken und Schwächen der vorhandenen Unternehmenskultur im Hinblick auf eine künftig notwendige Entwicklung des Unternehmens / der Business-Unit analysiert
  • Aufsatz von lokalen Umsetzungskreisen, die eine Kulturentwicklung durch Organisationsdesign und Managementhandeln vor Ort ermöglichen
  • Vernetzung der lokalen Umsetzungskreise im Sinne von Best Practices und Ressourcenbündelung

Variante 3: Virales Vorgehen - Eine orchestrierte Bewegung erzeugen

Ziele

  • Die Zielkultur ist weitgehend geklärt oder soll bewusst miteinander auf dem Wege entwickelt werden
  • Es geht um die Schaffung einer breiten Bewegung, die kulturelle Entwicklungen stimuliert, durch Maßnahmen konkretisiert und Experimentierräume öffnet.

Vorgehen

  • Klares Commitment der oberen Führung zur Kulturbewegung und damit auch zur Bereitschaft, sich selbst und das eigene Verhalten zu thematisieren
  • Suche nach gut vernetzten Schlüsselpersonen, um diese als akzeptierte "Influencer" Gruppen aufzubauen
  • Aufbau von Werkstätten, Labs und anderen Experimentierräumen, in denen konkrete Maßnahmen zur Kulturveränderung entwickelt und ausprobiert werden.
  • Häufig auch Entwicklung von Cultural Hacks (konkrete Irritationen zur Bewusstmachung der Kultur, wie z.B. Neuaufsatz von informellen Begegnungsräumen (Lean Coffee)
  • Erzeugen von Sichtbarkeit all dieser Entwicklungen in der Gesamtorganisation über Storytelling, z.B. über Intranet-Plattformen, visuelle Aktionen, Podcasts, Videos, ...)
  • Orchestrierung der Bewegungen über Zirkel und spezielle Rollen (Cultural Change Officer) und selbstorganisierte Kreise.

Natürlichen lassen sich zwischen diesen Varianten auch sinnhafte Mischformen denken. Schaut man auf die aktuellen Entwicklungen, sind es sicher die eher viralen Initiativen, die in vielen Unternehmen laufen oder angeschoben werden. Auch aus unserer Sicht sollten Entscheider*innen für die Varianten 1 (Übergreifende Kulturanalyse und -entwicklung) und 2 (Spezifisches Kultur-Assessment mit Unit-bezogenen Maßnahmen) vorab gut prüfen, ob sich ein Messaufwand wirklich lohnt und was man überhaupt messen möchte. Eine Messung erzeugt immer mannigfaltige Möglichkeiten, um über die Ergebnisse, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu reflektieren. Entscheidend sind aber letztlich Maßnahmen, die einen Unterschied machen. Wir sehen drei aktuelle Prämissen für gelingende Initiativen.

Was braucht die kulturelle Transformation?

Leadership ist der Schlüssel

Führung sollte sich selbst thematisieren können und die kulturelle Entwicklung sichtbar unterstützen und stimulieren - und das idealerweise in einer breiten und übergreifenden Koalition.

Machen > Reden

Muster verändern sich durch konkretes Handeln und den Dialog darüber. Wir unterstützen und befähigen dazu, interne Lernschleifen zu der Wirksamkeit neuen Handelns aufzubauen.

Iterative Anpassung

Der Kulturwandel muss konzeptionell zwar angelegt und geplant werden, aber mit einem Höchstmaß an Anpassungsfähigkeit. Deshalb planen wir in Phasen und beobachten und passen iterativ sorgfältig an.

Übergreifende Empfehlungen für den Aufsatz von Kulturentwicklungsprozessen

Klären Sie Ihr kulturelles Zielbild und stellen Sie dabei die Kopplung zu den Businesszielen her, entwickeln Sie eine Change-Story und ein attraktives Kommunikationskonzept.

Wählen Sie zur Stimulierung der kulturellen Bewegung Führungskräfte und Schlüsselspieler*innen aus, die zur angestrebten Kultur passen. Implementieren Sie Gespräche und Dialogformate, um die Wichtigkeit des kulturellen Wandels in die Wahrnehmung zu bringen.

Und vor allem: Machen Sie den erwünschten Wandel durch Veränderungen in der Organisationsstruktur wahrscheinlicher.

Literatur:

  • Denison, D. et al.: "Diagnosing organizational cultures ..." in European Journal of Work and Organizational Psychology, 2014
  • Foster-Wallace, D.: "This is water", Kiepenheuer & Witsch, 2012
  • Groysberg, B. et. al: "Eine Frage der Kultur", HBM 3, 2018
  • Herrero, L.: "Viral Change", Meeting Minds, 2008
  • Kühl, S.; Ibold,F; Matthiesen, K.: "Den Wandel richtig managen", HBM 3, 2018

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