Ein eigenes Learning: Meine Kolleg*innen und ich haben in den großen Initiativen zur (teil-)autonomen Gruppenarbeit der Nullerjahre unzählige Workshops und Qualifizierungen durchgeführt, um die neue Kultur der Selbstorganisation zu verankern. Rückblickend betrachtet hat die vergleichsweise unscheinbar anmutende Strukturveränderung der Einrichtung einer gemeinsamen Gruppengeschäftsstelle (alle Arbeitsgänge wurden auf ein gemeinsames Konto verrechnet) mindestens ebenso zum Kultur- und Musterwechsel beigetragen. Man brauchte eben beides!
Wie lassen sich nun unterschiedliche Varianten von Kulturprozessen grob unterscheiden? Welche Ziele sollen damit erreicht werden und wie können solche Prozesse umrissen werden? Hier eine kursorische Unterscheidung von drei Varianten, die sich auch in den Anfragen unserer Kunden widerspiegelt.
Varianten eines Kulturprozesses
Variante 1: Übergreifende Kulturanalyse und -entwicklung
Ziele
Erhebung der Ist-Situation des Gesamtunternehmens durch eine Befragung der Belegschaft
Beschreibung des Status-Quo der Unternehmenskultur (Nullmessung)
Identifizieren, was die Belegschaft heute bewegt
Analytische Basis und Verständnis schaffen, um nachfolgend die Unternehmenskultur weiterzuentwickeln
Aufbereitung der Ergebnisse für eine nachfolgende Kulturentwicklung
Vorgehen
Start mit Auftraggeber: Klärung von Zielen, Scope und Vorgehensvarianten
Analyse von firmeninternen und externen Dokumenten; Beobachtungen (im Rahmen von Gesprächen und Treffen, Rundgängen etc.)
Durchführung und Auswertung einer qualitativen Befragung (ca. 50-80 teilstrukturierte Interviews) und Durchführung und Auswertung einer quantitativen Befragung mit einem geeigneten Modell (z.B. der Kulturanalyse nach Denison, 2001)
Weiterentwicklung der Kultur mit angepassten Umsetzungsmaßnahmen
Möglicher Start einer Cultural Journey, mit Besuchen anderer Unternehmen und dem Aufbau übergreifender Kulturdialoge und Implementierungszirkel.
Variante 2: Spezifisches Kultur-Assessment mit Unit-bezogenen Maßnahmen
Ziele
Das Management eines Unternehmens will sich einen Überblick über die unternehmenskulturellen Stärken und Entwicklungsbedarfe in einzelnen Bereichen verschaffen
Die Spezifika der bestehenden Unternehmenskultur sind bereits weitgehend bekannt
Eine Bewertung, was konkret eine Stärke oder Schwäche für das Unternehmen oder eine Business-Unit darstellt, kann auf Basis der Unternehmensstrategie, der Bereichsstrategie und zentraler Transformationsziele erfolgen (z.B. "New Ways of Working" zu implementieren
Vorgehen
Halbstrukturierte qualitative Interviews mit den oberen zwei bis drei Führungsebenen sowie mit zentralen Führungskräften verschiedener Hierarchieebenen und Bereiche (Schlüsselkräfte)
Zielbild-Workshops mit Führungskräften der nachfolgenden Ebenen und mit zentralen Meinungsbildnern, vorzugsweise mit einem verständlichen und integrativen Modell (z.B. nach Groysberg, 2018)
Vergleich von Ist- und Ziel-Kultur, der die Stärken und Schwächen der vorhandenen Unternehmenskultur im Hinblick auf eine künftig notwendige Entwicklung des Unternehmens / der Business-Unit analysiert
Aufsatz von lokalen Umsetzungskreisen, die eine Kulturentwicklung durch Organisationsdesign und Managementhandeln vor Ort ermöglichen
Vernetzung der lokalen Umsetzungskreise im Sinne von Best Practices und Ressourcenbündelung
Variante 3: Virales Vorgehen - Eine orchestrierte Bewegung erzeugen
Ziele
Die Zielkultur ist weitgehend geklärt oder soll bewusst miteinander auf dem Wege entwickelt werden
Es geht um die Schaffung einer breiten Bewegung, die kulturelle Entwicklungen stimuliert, durch Maßnahmen konkretisiert und Experimentierräume öffnet.
Vorgehen
Klares Commitment der oberen Führung zur Kulturbewegung und damit auch zur Bereitschaft, sich selbst und das eigene Verhalten zu thematisieren
Suche nach gut vernetzten Schlüsselpersonen, um diese als akzeptierte "Influencer" Gruppen aufzubauen
Aufbau von Werkstätten, Labs und anderen Experimentierräumen, in denen konkrete Maßnahmen zur Kulturveränderung entwickelt und ausprobiert werden.
Häufig auch Entwicklung von Cultural Hacks (konkrete Irritationen zur Bewusstmachung der Kultur, wie z.B. Neuaufsatz von informellen Begegnungsräumen (Lean Coffee)
Erzeugen von Sichtbarkeit all dieser Entwicklungen in der Gesamtorganisation über Storytelling, z.B. über Intranet-Plattformen, visuelle Aktionen, Podcasts, Videos, ...)
Orchestrierung der Bewegungen über Zirkel und spezielle Rollen (Cultural Change Officer) und selbstorganisierte Kreise.
Natürlichen lassen sich zwischen diesen Varianten auch sinnhafte Mischformen denken. Schaut man auf die aktuellen Entwicklungen, sind es sicher die eher viralen Initiativen, die in vielen Unternehmen laufen oder angeschoben werden. Auch aus unserer Sicht sollten Entscheider*innen für die Varianten 1 (Übergreifende Kulturanalyse und -entwicklung) und 2 (Spezifisches Kultur-Assessment mit Unit-bezogenen Maßnahmen) vorab gut prüfen, ob sich ein Messaufwand wirklich lohnt und was man überhaupt messen möchte. Eine Messung erzeugt immer mannigfaltige Möglichkeiten, um über die Ergebnisse, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu reflektieren. Entscheidend sind aber letztlich Maßnahmen, die einen Unterschied machen. Wir sehen drei aktuelle Prämissen für gelingende Initiativen.
Was braucht die kulturelle Transformation?
Leadership ist der Schlüssel
Führung sollte sich selbst thematisieren können und die kulturelle Entwicklung sichtbar unterstützen und stimulieren - und das idealerweise in einer breiten und übergreifenden Koalition.
Machen > Reden
Muster verändern sich durch konkretes Handeln und den Dialog darüber. Wir unterstützen und befähigen dazu, interne Lernschleifen zu der Wirksamkeit neuen Handelns aufzubauen.
Iterative Anpassung
Der Kulturwandel muss konzeptionell zwar angelegt und geplant werden, aber mit einem Höchstmaß an Anpassungsfähigkeit. Deshalb planen wir in Phasen und beobachten und passen iterativ sorgfältig an.
Übergreifende Empfehlungen für den Aufsatz von Kulturentwicklungsprozessen
Klären Sie Ihr kulturelles Zielbild und stellen Sie dabei die Kopplung zu den Businesszielen her, entwickeln Sie eine Change-Story und ein attraktives Kommunikationskonzept.
Wählen Sie zur Stimulierung der kulturellen Bewegung Führungskräfte und Schlüsselspieler*innen aus, die zur angestrebten Kultur passen. Implementieren Sie Gespräche und Dialogformate, um die Wichtigkeit des kulturellen Wandels in die Wahrnehmung zu bringen.
Und vor allem: Machen Sie den erwünschten Wandel durch Veränderungen in der Organisationsstruktur wahrscheinlicher.
Literatur:
Denison, D. et al.: "Diagnosing organizational cultures ..." in European Journal of Work and Organizational Psychology, 2014
Foster-Wallace, D.: "This is water", Kiepenheuer & Witsch, 2012
Groysberg, B. et. al: "Eine Frage der Kultur", HBM 3, 2018