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01. Oktober 19

Führungskräfte führen in die Selbstorganisation

Führungskräfte, die ein Team in die Selbstorganisation führen? Ist das nicht paradox? Schließlich verkörpern gerade sie die hierarchischen Strukturen. Sie verdanken ihre aktuelle Position genau jener Organisationsstruktur, die nun (teilweise) abgelöst werden soll, und vermutlich auch den Grundhaltungen und Kompetenzen, die in hierarchischen Kontexten (bislang) erfolgreich und gefragt waren. Natürlich ist das ein Problem, denn Selbstorganisation ist sehr voraussetzungsvoll - beim Ausgestalten von Führungsrollen ebenso wie beim Füllen von Mitarbeiterrollen.

Allerdings ist das Problem nicht unüberwindbar - lässt sich doch durch das hierarchische Beziehungsgefüge Selbstorganisation gleichsam "anordnen". Und genau das sollte Führung sogar: Denn in hierarchisch geprägten Organisationen muss Führung den Freiraum geben, sich innerhalb gewisser Grenzen und mit Blick auf Ziele autonom zu organisieren. Natürlich heißt das nicht, dass sich Selbstorganisation per Ansage "erzeugen" lässt - im Gegenteil. Denn abgesehen davon, dass Selbstorganisation entsprechender Kompetenzen bedarf, ist (gerade bei Führungskräften) das Wollen hoch relevant ... und das lässt sich auf keinen Fall per Knopfdruck anschalten. Lassen Sie uns daher etwas grundsätzlicher werden:

Außerhalb etablierter Organisationsformen ist Selbstorganisation wahrscheinlicher

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich spontan selbstorganisierte Arbeitsformen entwickeln, ist recht groß, wenn sich Gruppen freiwillig rund um ein für sie relevantes Thema bzw. Problem zusammenfinden und ihnen niemand vorschreibt, was sie zu tun oder zu lassen haben. Die Gruppe hat ein gemeinsames Ziel und arbeitet gemeinsam darauf hin. Niemand hat von vornherein "den Hut auf" und "sagt an". Vielleicht hatte man zuvor schon Kontakt und kann einschätzen, wer was kann und gerne macht: Vielleicht muss man sich auch erst kennenlernen und herausfinden, wer welche Kompetenzen einbringen kann.

Natürlich ist Führung auch hier allgegenwärtig - allerdings nicht als vorab definierte feste Funktion mit dem institutionalisierten Anspruch "Ich bin hier der Chef!". Vielmehr geht eine Person in Führung, wenn es etwas zu tun gibt, für das sie sich besonders geeignet fühlt - also ein "Könner" ist" oder dafür gehalten wird - oder wenn einfach etwas (ggf. auch Unangenehmes) getan werden muss, um den (Gesamt-)Erfolg nicht zu gefährden. In anderen Punkten überlässt diese Person die Führung anderen - nämlich jenen, die es vermutlich besser können als sie selbst. So ist Führung bedarfsgerecht und situationsbedingt an wechselnde Rollen gebunden - nicht an feste Funktionen: Es gibt viel Führung - allerdings ohne Führungskräfte.

Etablierte Organisationen sind meist stark durch hierarchische Arbeitsstrukturen geprägt

Im organisationalen Kontext mag diese Form der (spontanen) Selbstorganisation noch auf Start-ups zutreffen, die sich mit viel Energie darauf stürzen, gemeinschaftlich ein Kundenproblem zu lösen - mit einem besonderen Produkt oder einer spezifischen Dienstleitung. Das Handeln richtet sich nach den Notwendigkeiten für den Erfolg beim Kunden - nicht danach, was man prinzipiell gerne täte. Insofern ist Selbstorganisation auch hier nicht zu verwechseln mit "Ich tue, was ich will!" Und wenn auffällt, dass etwas Wichtiges getan werden muss, wird vermutlich irgendjemand aktiv werden und entweder inhaltlich oder organisatorisch in Führung gehen.

Dieses Entwicklungsprinzip, nach dem sich kleine junge Organisationen organisieren, lässt sich allerdings nicht 1:1 auf etablierte übertragen. Es gibt bisher keine gelungenen Beispiele dafür, dass sich große und bestehende Organisationen komplett neu selbstorganisiert aufstellen - auch wenn sich etliche bereits auf den Weg machen - der immer ein ganz eigener Weg ist.

In etablierten Organisationen treffen wir meist auf eine ganz andere Ausgangssituation: Hier herrscht eine über längere Zeit entstandene Arbeitskultur, die stark durch im Kern hierarchische Strukturen und die dafür installierten Führungskräfte dominiert wird. Führung ist dort an Stellen gebunden und formal legitimiert; sie hat ein Amt inne und verleiht ihrerseits Ämter. Ein Blick auf die Wortherkunft macht klar, was es mit Ämtern auf sich hat: Der Begriff ist entlehnt aus dem keltischen "ambaktos", was Diener bzw. Höriger bedeutet. Ein Amt umfasst also eine von anderen festgelegte und fest umrissene Zuständigkeit - meist verbunden mit diversen (inzwischen oft unüberschaubaren und daher ohnehin nicht einhaltbaren) Regularien für die Amtsführung.

Autoritäre Beziehungsmuster können für "Geführte" nützlich sein

Folgt man diesem Gedanken konsequent, hat ein Amtsinhaber also nur zu tun, was ihm aufgetragen wird - und ist insoweit relativ frei von Verantwortung. Das ist für Mitarbeitende (und dazu können auch Führungskräfte gehören) angesichts hoher Komplexität außerordentlich entlastend. Daher wünschen sich viele gerade in herausfordernden Situationen jemanden, der die Entscheidung übernimmt (und ihnen abnimmt) - also Führungskräfte. Und das trifft umso mehr zu, wenn Mitarbeitende sich nicht sicher sind, wie ihre Führungskräfte mit einem vermeintlichen Fehler umgehen werden: Im Zweifelsfall wähnt man sich mit "Dienst nach Vorschrift" ("Wer ist dafür eigentlich zuständig?") auf der richtigen (und sicheren) Seite - meist wissend, dass dadurch das eigentliche Problem nicht gelöst ist.

Neben der Entlastung von Verantwortung sind autoritäre Beziehungsmuster für "Geführte" oft auch noch in anderer Hinsicht nützlich: Man hat Klarheit, was man tun soll, ohne selbst denken zu müssen. Es gibt ein simples Erfolgskriterium - die Reaktion der Führungskraft. Man spart Energie für Auseinandersetzungen. Man kann seine Lebensbereiche klar getrennt halten. Archaische Sehnsüchte nach Außenführung werden bedient. Wenn etwas nicht funktioniert, kann man sein Bild von einer "schlechten Welt" und unfähigen Führungskräften konservieren. Das alles sind oft keine bewussten Entscheidungen, sondern für den Einzelnen sinnvolle Haltungen und Herangehensweisen, weil sie sich im bisherigen Alltag bewährt haben - und damit Kulturgut geworden sind.

Selbstorganisation heißt nicht automatisch Hierarchiefreiheit

Einerseits werden etablierte Organisationen nicht einfach durch das Abschaffen von Hierarchie erfolgreich. Andererseits gibt es nicht nur "entweder selbstorganisiert oder hierarchisch", sondern auch eine Mischform des "sowohl - als auch" - und zwar nicht als unfertiges Konstrukt, sondern als eine funktionale und stabile Organisationsform. Gerade große Unternehmen benötigen eine orientierende Richtung und brauchen tragfähige Mechanismen, um in zentralen übergreifenden Fragen zügig zu Entscheidungen zu kommen - insbesondere bei lähmenden Konflikten.

In fest gefügten traditionellen Organisationen geht es immer öfter darum, (in bestimmten Bereichen) mehr Autonomie zuzulassen. Und dieser zusätzliche Freiraum kann in Organisation mit hierarchischer Historie nur von Führung erlaubt werden. Selbstorganisation muss also geplant und gestaltet werden - innerhalb eines klar definierten Rahmens. In diesem Sinne ist Selbstorganisation ein Recht, das wieder entzogen werden kann, wenn die gewünschten Effekte sich nicht einstellen. Allerdings braucht es für das Um- und Neulernen Zeit.

Führungskräfte müssen sich zunächst selbst mit ihrer veränderten Rolle anfreunden

Führungskräfte sind jedoch nicht nur mit den Beharrungskräften bei ihren Mitarbeitenden konfrontiert. Zunächst gilt es, die eigene Haltung zu überdenken: Jede Führungskraft muss sich klar machen, ...

... dass Selbstorganisation nicht einfach Rückzug von ungeliebten Aufgaben, Wegdelegieren oder weniger Arbeit bedeutet;

... dass sich die möglicherweise lieb gewordene Rolle als Steuerer und Macher stark verändern wird;

... dass der Fokus weg von der inhaltlichen Expertise in Richtung Rahmengestaltung geht;

... dass es insofern bei Führung nicht mehr um Selbstbestätigung, individuelle Karriere oder mehr Geld geht, sondern um eine Dienstleistung fürs Unternehmen - und auch für Mitarbeitende.

Die Bereitschaft, sich selbst ernsthaft als Lernender auf den Weg zu machen, ist die Grundvoraussetzung für dieses veränderte Rollenverhalten. Damit es nicht zum schnell durchschaubaren Etikettenschwindel kommt, bedarf es eigener Anstrengungen, die neue Rolle angemessen zu füllen: Es geht um Loslassen, Vertrauen, Unterstützen usw. Wer dazu nicht bereit ist, wird weder ein selbstorganisiertes Team führen - geschweige denn ein selbstorganisiertes Team aufbauen können.

Führungskräfte schaffen die Rahmenbedingungen für Selbstorganisation und unterstützen die Entwicklung

Selbstorganisation als Organisationsprinzip muss also gewollt und entschieden werden - erst dann kann sich ihr Potenzial entfalten. Und auch dann entwickelt sie sich nicht allein durch "Abwesenheit" von Führungskräften in die richtige Richtung: Führungskräfte übernehmen in diesem Prozess eine wichtige und sehr verantwortungsvolle Rolle, deren Ausgestaltung davon abhängt, wo ihr Team gerade steht: Außerdem wandelt sich diese Rolle im Zuge des Aufbaus und der Entwicklung selbstorganisierter Teams und oszilliert zwischen Gestaltung, Geburtshilfe und Coaching:

Als Gestalterin/Gestalter bringt die Führungskraft das Team insbesondere in der (konzeptionellen) Startphase auf den Weg und sorgt für geeignete organisationale Rahmenbedingungen:

  • Sinn, Nutzen und Zielrichtung klar und verbindlich benennen
  • eine "echte Teamaufgabe" konzipieren - mit möglichst breitem Wertschöpfungsspektrum (also einer aus Sicht des Kunden "vollständigen" Leistung), daraus resultierendem Kooperationsbedarf und hoher Verantwortung - damit Selbstorganisation tatsächlich zum Mannschaftssport wird 
  • die Mannschaft sinnvoll zusammensetzen - mit sich ergänzenden spezifischen Skills und zueinander passenden "Charakteren", damit ein effektives und vertrauensvolles Miteinander wahrscheinlich wird 
  • "unzensierte" Informationen leicht zugänglich machen 
  • das Team nah an den Kunden bringen, damit wirksame Selbststeuerung möglich wird und die zentrale Referenz nicht mehr die Führungskraft, sondern der Kunde wird 
  • teambezogene Vergütungssysteme konzipieren, die Mannschafts- und nicht Einzelleistung belohnen
  • geeignetes Arbeitsmaterial und erforderliche Ausstattung bereitstellen, damit schnelles, proaktives und effizientes Arbeiten möglich wird 
  • Verantwortlichkeiten des Teams für die Arbeitsorganisation klären und Entscheidungsbefugnisse festlegen 
  • feste Regeln bzw. Vorschriften für jeden Einzelfall so weit wie möglich zurückfahren und durch handlungsleitende Prinzipien (ähnlich einer "Verfassung") ersetzen, die einen Rahmen aufspannen, innerhalb dessen freies Handeln möglich ist 
  • bei Bedarf selbst die Verbindung zur Gesamtorganisation sichern

Als Geburtshelferin/Geburtshelfer arbeitet die Führungskraft so mit dem Team zusammen, dass messbare Leistungsziele mit Blick auf übergeordnete Ziele erreicht und Zug um Zug erforderliche Kompetenzen (weiter-) entwickelt werden. Sie beobachtet fortlaufend die Entwicklung und wird insbesondere anlassbezogen und in kritischen Phasen aktiv:

  • Bewusstsein für die (Team-)Umwelt fördern
  • vorausschauendes, strategisches und übergreifendes Denken unterstützen
  • Flexibilität in jeder Hinsicht anregen und trainieren, um auch für schwierige Situationen gewappnet zu sein
  • zu problementdeckendem und lösungsorientiertem Denken ermuntern
  • beim Entwickeln geeigneter Arbeitsverfahren helfen
  • die Entscheidungskraft des Teams vorantreiben
  • Kooperations- und Konfliktfähigkeit befördern, damit Kohäsion bzw. Mannschaftsgeist entstehen kann
  • auch in das Aufbauen von redundantem und "Notfall-"Wissen und -Können investieren - selbst wenn das im besten Fall nie gebraucht wird

Als Coach ist die Führungskraft fortlaufend aktiv und bleibt es auch. Gerade, wenn sich das Team gefestigt und hilfreiche Routinen aufgebaut hat, kann die Führungskraft den gewonnenen Freiraum auch nutzen, um ihr eigenes Führungsverhalten weiter zu entwickeln:

  • sich selbst und andere aufmerksam beobachten
  • alte Gewohnheiten bewusst hinterfragen
  • mit der eigenen Rolle und unterschiedlichen Verhaltensweisen experimentieren
  • auf Rollenklarheit achten
  • ansprechbar sein und auf Nachfrage zur Verfügung stehen
  • keine Rückdelegation zulassen 
  • sich ganz bewusst bei Entscheidungen zurückhalten und nicht schleichend, versehentlich, durch die Hintertür oder mit Verweis auf hohe Fachexpertise in die Entscheider-Rolle begeben oder drängen lassen

Grundsätzliches Prinzip sollte sein, nur das bzw. alles zu tun, was dazu beiträgt, Verantwortung und Fähigkeiten des Teams aufzubauen, zu stärken und zu entwickeln - für das Gestalten der Arbeit, das Lösen von Problemen (in der Gruppe) und das Selbstmanagement.

Führungskräfte von selbstorganisierten Teams werden keineswegs arbeitslos - allerdings verlagert sich das Handlungsfeld gegebenenfalls tiefgreifend. Das will nicht jede Führungskraft (lernen) - und das muss sie auch nicht. Doch dann sollte sie sich - oder die Organisation sie - von selbstorganisierten Teams besser fernhalten - besonders wenn sie sich im Aufbau befinden. Denn in die Selbstorganisation wird diese Führungskraft andere dann sicher nicht führen. In jedem Falle braucht es heute Führungskräfte, die Lust auf diese Form von Wandel haben, schließlich sind sie es, die in die Selbstorganisation führen - zumindest in etablierten Organisationen!

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